Der Publizist Paul Lendvai blickt mit News zurück auf das Jahr 2024. Sein Befund fällt nüchtern-pessimistisch aus. National wie international sei dieses Jahr von einem Führungsversagen der Politiker sowie einem Versagen der Medien geprägt gewesen
Wenn man auf dieses Jahr zurückblickt, sieht man Kriege und Krisen. Gab es auch gute Nachrichten?
Ich zitiere oft Hegel, der gesagt hat, in der Geschichte seien Perioden des Glücks leere Blätter. Es ist wirklich so. Man vergisst die lange Periode des Glücks. Am Ende des Jahres ist zweifellos der Sturz der Diktatur in Syrien eine gute Nachricht. Auch wenn schon Stimmen laut werden, die angesichts von Unsicherheit und Chaos meinen, es wäre dort besser nichts passiert.
Was prägt dieses Jahr für Sie?
In erster Linie die Pleite der Führungskräfte. Erstens: Joe Biden. Er war ein guter Präsident, hat aber zu lange geglaubt, dass er sein eigener Nachfolger sein wird. Dann hat er auch noch seinen Sohn begnadigt, der ein kleiner Spekulant und Krimineller ist. Mit seiner Heuchelei hat er sein eigenes Lebenswerk zerstört. Man wird sich nicht daran erinnern, was er erreicht hat, sondern daran, was er falsch gemacht hat. Die zweite große Enttäuschung ist Emmanuel Macron, der zunächst ein Glücksfall war, doch dann spielt er Vabanque mit der Ausschreibung von Wahlen. Und dann haben Sie leider noch Olaf Scholz. Er ist ein kluger Mensch, der im Gegensatz zu österreichischen Politikern auch Bücher liest. Aber er hat versagt, denn man muss Politik auch präsentieren können. Es ist nicht genug, zu zeigen, dass man intelligenter ist und alle anderen für Dummköpfe hält, wenn man sich nicht verkaufen kann. Überlegenheit ist eine leere Hülle, wenn einen die Menschen nicht verstehen.
Und in Österreich?
Gilt das Gleiche. Auch hier ist das Wahlergebnis nicht vom Himmel gefallen. Es ist in erster Linie das Ergebnis des Versagens der Sozialdemokratie und natürlich auch der ÖVP. Wir hatten diese Ibiza-Geschichte, die zeigt, wie die FPÖ ist, einschließlich der Leute, die jetzt am Ruder sind. Aber die Zeche zahlt die ÖVP durch den Untersuchungsausschuss und die Erbschaft des Wonder-Boy Sebastian Kurz. Das jetzige Budgetdefizit ist nicht die Folge der Migrantenkrise oder des Drucks aus Brüssel, sondern es ist eine hausgemachte Krise. Ausgerechnet jener Minister, der namentlich dafür verantwortlich ist, wurde als EU-Kommissar nach Brüssel geschickt. Es gibt ein Versagen der Führungspersonen in den Parteien. Aber auch ein kurzes Gedächtnis der Wähler. In Österreich fällt man immer auf den Glanz von Wonder-Boys wie Haider, Grasser oder Kurz herein.
Ist der Aufstieg der Rechten auf das Versagen der Parteien der Mitte zurückzuführen? Muss man deren Spitzenpersonal austauschen?
Es ist nicht nur das. Es ist auch ein Problem der Medien. Wenn Sie nach Ungarn blicken: Da gibt es mit Péter Magyar ein Hoffnungszeichen. Aber es wird unterbelichtet, denn das Dramatische ist immer besser zu verkaufen. Es wird nicht wirklich recherchiert. Journalismus ist Arbeit. Auch in Österreich gibt es viele Dinge, die in den Medien nicht beleuchtet werden, weil das viel Arbeit bedeuten würde. Dafür gibt es nicht mehr genug Leute bei den Zeitungen. Das brauche ich Ihnen nicht zu sagen. Denken Sie nur, mit welcher Mischung von Arroganz und Ignoranz Alexander Van der Bellen angegriffen wird. Die dummen Phrasen über „Usancen“ – was soll das sein? Er wird kritisiert, weil er Kickl nicht den Regierungsauftrag gegeben hat.
Was er laut Verfassung nicht muss.
Dass der ÖVP-Mann Drexler aus der Steiermark das als Hauptgrund dafür nennt, dass er seine Wahl verloren hat, ist lächerlich. Wahlen verliert man, weil man große Fehler gemacht hat. Aber jemandem eine Tribüne zu bieten, der ganz klar sagt, dass er mit Fahndungslisten operieren will und auch noch anderes plant, wäre unerhört gewesen. Hätte Kickl dann wochenlang ohne Ergebnis verhandelt, hätte man gesagt, Van der Bellen verliert zu viel Zeit. Ich halte es für unglaublich, dass das aus der ÖVP kommt. Das war und ist eigentlich eine Kampagne gegen ihren eigenen Verhandlungsführer Karl Nehammer.
Diese Kritik am Bundespräsidenten kam auch aus der SPÖ, deren Chef Andreas Babler ebenfalls verhandelt.
Auch die SPÖ zerfällt. Verantwortlich dafür ist unter anderem Hans Peter Doskozil. Er hat mit seinen Aussagen die Wahlchancen der Partei immer wieder zerstört. Es ist auch unglaublich, dass man, nachdem man gestürzt ist, seine Nachfolgerin mit allen Mitteln untergräbt, wie das Christian Kern getan hat.
Welche Rolle sollen die Medien in der derzeitigen Situation spielen?
Es geht auch um die Verantwortung der Medien. Wenn man liest, wie gescheiterte Ex-Chefredakteure oder sogar als Kolumnisten verkleidete FPÖ-Veteranen jetzt in auflagenstarken Zeitungen den Bundespräsidenten belehren, wieso alles so lange dauert, und dass jeder Tag zählt. Es geht nicht um Tage, es geht darum, dass etwas Vernünftiges zustande gebracht wird. Dazu kommt der fehlende Nachwuchs in der Politik, wo man stets unter einem Vergrößerungsglas ist. Die, die wirklich begabt sind, sind daher nicht mehr bereit, sich und ihre Familien diesem Spiel auszuliefern. Es gibt Instant-Fame, aber sofort die Instant-Pleite, wenn man einen Fehler macht. Es kommt nur mehr die zweite oder dritte Garnitur in die Politik – verglichen mit den drei Großen, die in den letzten Tagen gestorben sind: Claus Raidl, Hannes Androsch und Josef Taus.
Es fehlen solche Persönlichkeiten, die Maßstäbe für Österreich setzen?
Ja, sie fehlen. Es ist wahrscheinlich auch eine Folge der Kommunikation, der Wirtschaft, der gesellschaftlichen Wandlungen, dass Politik nicht mehr attraktiv ist.
Reichen Führungsversagen und die mangelnde Attraktivität der Politik als Erklärung dafür aus, dass ein Drittel der Menschen rechte Parteien wählt und Menschenverachtung, minderheitenfeindliche Politik, teilweise Antisemitismus nur als Begleitgeräusche wahrnimmt?
Ich glaube, den Menschen scheinen die für uns so wichtigen Themenbereiche zu abstrakt zu sein. In der Steiermark haben im Wahlkampf weder ÖVP noch SPÖ aufgezeigt, dass bei der FPÖ 1,8 Millionen Euro verschwunden sind und Untersuchungen gegen Funktionäre laufen. Das wäre etwas, das die Menschen verstehen. Dass Hannes Androsch seinerzeit angeblich 104 Anzüge im Kasten hatte, hat ihm mehr geschadet als die großen Dinge. Aber was macht Herr Drexler? Er beklagt sich, dass er wegen Van der Bellen die Wahl verloren hat. Sein Interview in der ZiB2 war eine Selbstvernichtung. Der Bundespräsident geht inzwischen mit dem Hund spazieren und erklärt, dass die Regierungsbildung bis Jänner dauern wird. Ich bin froh, dass wir einen Präsidenten haben, der mit dem Hund spazieren geht und sich nicht von den Menschen absondert und große Versprechungen ankündigt.
Dadurch gewinnt man Vertrauen?
Ein Fehler von Politikern ist, dass sie nicht vorbereitet sind. Man sieht es an Premier Keir Starmer in Großbritannien. Ein guter Jurist, aber er hat keine Konzepte. In der Politik verliert man so wahnsinnig schnell das Vertrauen. In den USA sitzt der reichste Mann der Welt mit seinen 400 Milliarden Dollar Arm in Arm mit Donald Trump bei der Zerstörung der verfassungsmäßigen Grundlagen der liberalen Demokratie. Also verglichen mit den USA und den Dingen, die dort passieren, ist es bei uns noch relativ ausgewogen und stabil. Man sieht aber auch am Beispiel von Boris Johnson, wie ein hochintelligenter Clown alles verspielt. Ohne moralischen Kompass geht es nicht.
Am Ende stürzen solche Menschen zumindest über sich selbst und nicht über mangelnde Krisenfestigkeit?
Krisen sind den Menschen schwer verständlich zu machen, vor allem wenn es auch noch einen zeitlichen Zusammenfall verschiedener Krisen gibt. Wir sehen es jetzt an der Klimakrise. Wenn im Budget Geld gebraucht wird, wird man bei der Klimapolitik sparen. Es geht ja um künftige Generationen. Die Menschen denken aber nicht an künftige Generationen. Ein anderes Thema ist die Immigration. Es sind oft die ersten Wellen der Zuwanderer, die sagen, die Menschen aus Syrien sollen sofort wieder gehen. Das ist schlecht. Vor vielen Jahren hat Kreisky gesagt, so wie Schweden für den Nobelpreis steht und die Schweiz für das Rote Kreuz, sollte Österreich als ein Flüchtlingsland gelten. Nun sieht man den Wandel der Zeit. Natürlich haben wir viele Menschen aufgenommen. Und natürlich gibt es Probleme mit Kriminalität. Oder mit Antisemitismus. Da kommen Kinder in die Schule, die zwar nicht Deutsch können und oft in der eigenen Sprache Analphabeten sind, aber sie wissen, was das Schlimmste auf der Welt sein soll: die Juden. Weil sie das in ihrer Familie gelernt haben. Wie soll ein schlecht bezahlter österreichischer Lehrer damit fertig werden? Andererseits gibt es hier auch eine Partei, die FPÖ, von der drei hochrangige Funktionäre bei dem Begräbnis eines rechtsextremen Parteifreunds SS-Lieder singen. Das ist die Selbstentlarvung der FPÖ. Das ist deren harter Kern, nicht die Frau Svazek in Salzburg, die nett lächelt.
Sie sind selbst als Flüchtling nach Österreich gekommen. Da hat sichseither einiges in diesem Land geändert, oder?
Das ist sicher so. Anderseits haben wir einen Bundespräsidenten mit estnischen und russischen Vorfahren. Und wir haben eine Justizministerin, die als Kind von Bosnien nach Österreich kam. Das wäre in Serbien oder in Ungarn unmöglich. Andererseits, wie bereits gesagt, die Migranten, die schon da sind, mögen jene nicht, die neu kommen. Auch das spielt eine Rolle. Also, ja, sicher, die Atmosphäre ist anders, kälter geworden. Die Krisen überfordern die Menschen. Dazu kommt, dass wir auch in der Ukraine eine Zeitenwende sehen.
Inwiefern?
Wir sehen, was passiert, wenn man zu spät und zu wenig reagiert. Der Ukraine wurde immer zu spät und zu wenig geholfen. Natürlich hätten die europäischen Staaten mehr tun müssen, auch wenn die Wirtschaft in Schwierigkeiten und die Inflation hoch ist. Da sind die Leute nicht dafür, dass man die Militärausgaben erhöht. So könnte die Rechnung Putins aufgehen und die zerstörte Ukraine früher oder später zur Kapitulation gezwungen werden. Das wäre dann die tragische Zeitenwende.
Gibt es trotz allem etwas, das Ihnen Hoffnung macht?
International zeigt Syrien, wie schnell eine Diktatur zerbrechen kann. In Ungarn zeichnet sich mit dem Phänomen Péter Magyar eine völlig unerwartete Bedrohung des durch und durch korrupten Orbán-Regimes ab. In Polen wurde auch die rechts-nationalistische Partei abgelöst. Vielleicht wird EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen aus den Fehlern ihrer ersten Amtsperiode lernen. Und vielleicht wird der US-Senat die schlimmsten Nominierungen durch Trump – bei den Geheimdiensten und an der Spitze des Verteidigungsministeriums – verhindern können.
In Österreich finden Wahlen im Burgenland, in Niederösterreich und in Wien statt. Das wird wieder eine Prüfung für die Parteien und die Medien. Man sieht, wie Medien ihre Linie ändern, weil ihre Eigentümer und Eigentümerinnen vom Wahlausgang betroffen werden könnten. Ich kann jedenfalls als Kolumnist bei einer freien, liberalen Zeitung frei schreiben. Aber das kann sich ändern, wie man in den USA bei der Los Angeles Times oder Washington Post gesehen hat. Es gibt auch die Zensur des Schweigens, wenn man über etwas nicht schreibt. Das ist eine Gefahr. Auch bei unseren Zeitungen. Dagegen muss man antreten. Freie Wahlen sind eine Lotterie, wenn man nicht die richtigen Politiker hat. Die Frage ist, welchen Preis wir dafür bezahlen. Vielleicht werden wir auch in einem Jahr, wenn ich noch lebe, Gespräche darüber führen, warum das Schlimmste – eine rechtsextreme Wachablöse – doch nicht passiert ist und wie pessimistisch man trotzdem ist. Das Rezept sollte jedenfalls sein: Nie aufgeben!
Paul Lendvai, 95
wurde als Sohn jüdischer Eltern in Budapest geboren. Nach einem Jus-Studium schrieb er als Jounalist bei sozialdemokratischen Zeitungen im kommunistischen Ungarn. 1953 wurde er verhaftet und erhielt Berufsverbot. Im Zuge des Ungarn-Aufstands 1956 floh er nach Österreich. Er arbeitete weiter als Journalist und gründete die Osteuropa-Redaktion des ORF. Er ist Kommentator beim Standard und Verfasser mehrerer Bücher.