Anfang Dezember 2019 war das, als gerade die ersten chinesischen Virologen mit Systemgewalt daran gehindert wurden, den bevorstehenden Weltuntergang zu thematisieren. Da gingen im Theater in der Josefstadt schon die Untoten um, die Nicht-ein-und-aus-Wisser, abgeworfen von der neuen, drohenden Zeit. In den verschachtelten, verschobenen Räumen eines zweistöckigen Hauses trieben sie ihre obszönen Parties: ein nach langer Zeit wieder zueinandergewürfelter Haufen Abgeworfener, die eben noch jemand waren und das Offensichtliche nicht glauben können -dass vor den Fenstern ihre Welt geschlägert wird.
Der Älteste unter ihnen war zugleich der Einzige, der wusste, dass er de facto nicht mehr am Leben war. Deshalb stellte der greise Diener Firs am Ende auch sein nie versiegendes Murmeln über die Zeitläufe ein und legte sich in den Trümmern der alten Welt zum Sterben nieder.
Tschechows "Kirschgarten" in der Inszenierung von Amélie Niermeyer geriet der "Josefstadt" zum allseits beachteten Ereignis, das sein Ausnahmeformat allerdings der kleinsten Rolle verdankte: Otto Schenk spielte ein halbes Jahr vor seinem 90. Geburtstag den alten Firs, eine der legendengekrönten Nebenrollen der Theatergeschichte, vergleichbar allenfalls dem Kammerdiener aus "Kabale und Liebe". Ein atemberaubendes Zitat aus großer, versinkender Theaterzeit, befand die Kritik.
Schenks letzter Theaterabend
Oft konnte er die Rolle nicht spielen, denn bald nach der Premiere war Dernière, und gleich für das ganze Land. Und da sich der Zustand im Herbst auf absehbare Zeit nicht ändern wollte, ging man daran, die fein besetzte Produktion für den Sender ORF III aufzuzeichnen. Im November war das bei geschlossenem Haus, und das Resultat war am 12. März zu sehen.
Und das, bestätigt Otto Schenk unter Kundigen geäußerte Befürchtungen, wird es dann auf der Theaterbühne gewesen sein. "Ja, es war der Abschied. Ich kann ja nicht mehr gehen. Auf der Bühne muss man sich bewegen können, und das kann ich rein physisch nicht mehr. Nur noch hoppeln. In der Rolle hab ich das noch benützen können: durch eine Welt taumeln, die es für mich kaum mehr gibt."
Wobei im November selbst diese Fertigkeit -und mit ihr die Aufzeichnung -auf der Kippe stand. Das Atout, die Hauptattraktion für das Fernsehpublikum, umbesetzen? Das hatte Direktor Föttinger schon für die Aufführungsserie ausgeschlossen. Also nahm man zuerst die fordernde Schlussszene auf, die, in der sich der alte Mann zum Sterben niederlegt.
"Das war ein Test, ein Versuch, ob es überhaupt noch möglich ist", sagt Schenk. "Meine Todesszene wurde vorweg aufgezeichnet, was sehr angenehm war. Sterben auf der Bühne gelingt mir noch, aber das Risiko war, dass diese eine Szene wirklich erspielt werden muss. Die anderen Szenen hätte man noch während des Probens streichen können." Aber es ging, und die Aufzeichnung konnte stattfinden.
Und weiter? Termine für die stets stürmisch besuchten Lesungen wären an mehreren Orten noch nachzutragen. "Die Leute hören mir zu, wenn ich auftrete, und aufs Podium kann ich noch geführt werden", sagt er. Aber wann das stattfinden darf, und ob, ist nicht abzusehen.
Ein Stück Geschichte
So wird der Fernseh-"Kirschgarten" zum historischen Dokument. "Ich hatte ja vor, aufzuhören. Die Regisseuse hatte eine lange Konzeptionsprobe. Sie hat sehr gescheite Dinge gesagt, aber wenn vom Regisseur Vorträge gehalten werden, schlafe ich ein. Ich konnte es gerade noch verhindern, weil die Regisseuse so nett war. Ich hatte sie gleich gewarnt: Ich kann nicht so probieren, wie Sie probieren! Man muss mich behandeln."
Das heißt? "Zuhören, was ich anbiete und damit herumarbeiten, meinetwegen auch lang. Wir haben uns dann so gut verstanden. Ich habe gebeten: Nehmen Sie einen anderen, ich bin ja ein Aufhörer. Es war ein Wunsch des Direktors, dass ich diese eine Rolle noch spiele, aber die Frage war, ob ich es durchstehen kann. Andererseits ist das ja einer, der durchsteht, und so habe ich ihn auch gespielt. Es war ein wunderbares Zusammenarbeiten", nimmt er den leisen Tadel von zuvor gleich wieder zurück. "Ich habe angeboten, keine Rücksicht auf mich zu nehmen, wenn ich hinderlich bin, aber ich bin in einen Ameisenhaufen hochbegabter Menschen hineingefallen, die mich gern gehabt haben und die ich gern gehabt habe und die das Stück fast gezwitschert haben. Glücklicherweise ist kein weihevoller Tschechow draus geworden, sondern ein Meeting von Verrückten, die mit nichts auskommen und nicht wissen, wen sie lieben. Der ganze Wahnsinn dieser Menschen, wurde aufs Korn genommen."
Und wie geht es ihm nun in der heillosen Zeit? Die Feiern zum 90. Geburtstag im Juni des Vorjahrs gellten noch in den großen Stillstand, sogar der Bürgermeister rückte aus. Dann wurde es ruhig, und das kränkt ihn nicht. "Das war doch natürlich. Das andere hab ich nicht erwartet, das Getöse. Weil ich nicht das Gefühl gehabt hab, was ich mache, ist so weltbewegend, wie es aufgenommen wurde."
Die Zeit der Stille nimmt er als Geschenk. Nach Wochen im Anwesen am Irrsee lebt das Ehepaar Schenk jetzt wieder in der Wiener Innenstadt-Wohnung. Renée Schenk, die in den Fünfzigerjahren die eigene Schauspielkarriere aufgab, um sieben Jahrzehnte lang die antreibende Kraft auf dem Weg ihres Mannes zu sein, ist still geworden. So still, dass Otto Schenk in den vergangenen Monaten schon blanke Angst artikuliert hatte. Vor Jahren schon war man sich einig gewesen, dass der eine ohne den anderen nicht leben wolle. Und jetzt?
"Meine Frau liegt neben mir, in einem Zustand, möchte ich fast sagen, aber dank wunderbarer Medizin fehlt es ihr an nichts. Wir haben beschlossen, den schönsten Sommer unseres Lebens zusammen zu verbringen. Wir sind Tag und Nacht beisammen. Das gfallt uns so gut."
Spricht man mit einander?"Wenig, sie spricht ja kaum. Sie lächelt und schläft sehr viel, und manchmal antwortet sie. Sie isst und trinkt und wird wunderbar betreut von einer Maria und einer Alena, denen ich gar nicht genug danken kann. Eine geniale Bedienung, die ich da habe. Ich genieße das sehr, und ich genieße, dass das Theater vorbei ist. So wie der Betrieb jetzt ist, so wie es verlangt wird, das könnte ich nicht mehr mitmachen."
Es gibt ja Wichtigeres. Am vergangenen Samstag wurden Renée und Otto Schenk zum zweiten Mal geimpft. Ein Krankenwagen brachte sie zur Station, der ersehnte Stich wurde gleich im Fahrzeug gesetzt.
Kunst und Wurscht
Sollen nun die Bühnen endlich aufsperren? "Ein bissl riskanter könnt man schon arbeiten. Man ist gerade bei den Theatern übervorsichtig. Ich würde mir zumindest Gleichberechtigung mit den Wurschtwaren wünschen."
Die Wahrnehmung der Kultur, bestätigt er das Offenbare, "ist nicht übertrieben hoch. Jedenfalls nicht in Regierungskreisen, es sei denn, die hätten heimliche Lieben, die mir verborgen geblieben sind. Es tut mir leid, dass man keine Modelle entwickelt. Ich hab noch Abende zu geben, die mit Schutzmaßnahmen zu machen sein müssten."
Herbert Föttinger, sein Nach-Nachfolger in der "Josefstadt"-Direktion, hat mehrfach gellend um den Bestand des Hauses gebangt. Sieht Otto Schenk sein Theater in Gefahr? "Sorge haben wir alle, aber man wird es doch nicht drauf ankommen lassen." Wenn aber Barbaren die Entscheidungsgewalt haben? "Ich hoffe darauf, dass sie vor der großen Barbarei doch Angst haben. Ich hab mich aus den Ratschlägen zurückgezogen", kommt er zum Finale, das einen - wer könnte das wie er? - zum Lächeln unter Tränen drängt. "Ich finde das so ungerecht, wenn man aus dem sicheren Hafen der Verkalkung Ratschläge emporwirft."
Ein Unglück nur, dass die entscheidungsbefugten Kultursklerotiker seine Enkel sein könnten.