Bei der letzten Übersiedlung fand ich eine Schachtel mit Fotos, die ich jahrelang vergessen hatte. Nur wenige der Bilder waren auf der Rückseite beschriftet. Ich hatte Schwierigkeiten, die Frauen und Männer und vor ihnen oft auf dem Boden sitzenden Kinder, steif und aufrecht in nobler Kleidung mit ernsten Gesichtern, zuzuordnen, wusste oft nicht, ob es die Familie meiner Mutter oder die meines Vaters war. Dann fand ich ein Bild eines Mannes, der lächelte. Er trug eine runde Brille und einen weißen Mantel, war offensichtlich Arzt und beugte sich zu einem Kind, das aufgrund der Form der Augen entweder aus China oder Japan kommen musste. Auf der Rückseite stand kaum leserlich: Onkel Paul.
Das konnte nur der Bruder meines Großvaters sein, der Onkel meiner Mutter, dachte ich, erinnerte mich an die wenigen Anekdoten, die ich von der Familie meiner Mutter kannte. Sie sprach nicht gern über die Vergangenheit, zu viele Tragödien, zu viele Tote. Doch sie erwähnte einige Male den Bruder ihres Vaters, den Onkel Paul, den Augenarzt in Wien.
Erinnerungen
Erinnerungen verirren und verlieren sich, entwickeln ein eigenes Leben. Meine Mutter war vierzehn oder fünfzehn Jahre alt, erzählte sie, als sie Onkel Paul das letzte Mal in Wien getroffen hatte. Mit 16 setzte sie ihre Mutter in den Zug nach England. Das war 1938. Sie hatte Onkel Paul und auch ihre Mutter nie wieder gesehen. Mich interessierte dieser unbekannte Onkel Paul, und ich begann, in seinem Leben herumzustöbern.
Paul Kafka wurde 1889 in Ostrava (Mährisch-Ostrau) in der heutigen Tschechischen Republik geboren. Er hatte eine Schwester, Irene, und einen Bruder, Fritz, mein Großvater -entfernt verwandt mit der Familie von Franz Kafka. Fritz studierte Chemie, Paul Medizin, und Irene widmete sich dem Sprachstudium und der Literatur und wurde eine international bekannte Übersetzerin.
Die deutschen Erstausgaben der meisten Kriminalromane von Agatha Christie übersetzte Tante Irene so wie Romane und Gedichte von Maurice Baring, Jules Romains, Julien Green, Moliere und Marcel Proust. Die Übersetzung einer Erzählung von Michael Joyce veröffentlichte die Zeitung irrtümlich unter James Joyce, der sich in seinem Roman "Finnegans Wake" über die Verwechslung ärgerte: "The Kafka in question in the Wake, however, is probably not Franz but Irene, the translator, who is getting her comeuppance for mixing up the two Joyces." Zahlreiche Übersetzungen übernahmen deutschsprachige Verlage bis in die Fünfziger und Sechziger Jahre.
Sie wohnte im Hochhaus in der Herrengasse, und war, erzählte meine Mutter, süchtig nach Mehlspeisen, hatte nie genügend Geld und signierte die Rechnungen der Konditorei Demel mit der Bemerkung: Rechnung an Dr. Paul Kafka. Am 7. Mai 1940 wurde sie wegen "Gräuelpropaganda - schriftstellerische Tätigkeit für deutschfeindliche Auslandszeitungen" - verhaftet und in das KZ Ravensbrück deportiert.
Augenarzt
Über Tante Irene fand ich eine Menge an Informationen, doch nichts über Onkel Paul. Es gab eine Liste der Ärzte aus dem Jahr 1939, die nicht mehr praktizieren durften. Auf meine Anfrage bekam ich von der Ärztekammer keine Antwort. Ich versuchte es mit wissenschaftlichen Archiven und fand eine Publikation, in der Onkel Paul erwähnt wurde. In Bernhard Aschners Buch "Technik der Konstitutionstherapie"(1937) steht auf Seite 65: "Die Augenärzte haben, wie mir Dr Paul Kafka (Wien) mitteilt, beobachtet, dass helle Augen auf Homatropin viel rascher und leichter Pupillenerweiterungen bekommen als dunkle."
Doch wo in Wien praktizierte er, wo wohnte er? Ich versuchte es mit Telefonbüchern, und tatsächlich, im Wiener Telefonbuch 1938 steht: Kafka, Med. Dr. Paul, Augenarzt (1/2 11 bis 1/2 12,14 bis 1/2 16), VIII, Florianigasse 5a. TEL: B-42-4-90. Dort war seine Ordination, und dort wohnte er.
Auch Onkel Paul wurde 1940 verhaftet, jedoch noch am selben Tag freigelassen. Angeblich, erinnerte ich mich an eine andere Anekdote, hätte ihn ein Polizist erkannt, dessen Sohn Patient bei Onkel Paul war. Er schickte ihn nach Hause, warnte ihn jedoch, er sollte das Land so bald wie möglich verlassen. Er könne ihm nicht noch einmal helfen. Onkel Paul versuchte, ein Visum zu bekommen, wurde jedoch überall abgewiesen. Ohne den Nachweis eines Visums konnten Juden das Land nicht verlassen. Bis ihm ein Freund riet, er sollte sich an das chinesische Konsulat wenden.
Gedenktafel
Ho Fang Shan arbeitete 1937 bis 1940 am chinesischen Konsulat in Wien und stellte - ohne Wissen und Genehmigung seines Vorgesetzten - Visa für Tausende Juden aus. Nach dem "Anschluss" akquirierten die Behörden das Konsulatsgebäude in Wien als jüdischen Besitz. Ho mietete auf eigene Kosten Räumlichkeiten in der Johannesgasse 22 im 1. Bezirk und setzte dort die illegale, konsularische Arbeit bis zu seiner Abberufung aus Wien im Mai 1940 fort.
Heute erinnert eine Gedenktafel in der Johannesgasse an diesen außergewöhnlichen Diplomaten: "Zwischen 1939 und 1940 rettete Dr. Feng Shan Ho als Generalkonsul der Regierung Chinas in diesem Gebäude in Wien Tausende Juden vor dem Holocaust durch die Ausstellung von Visa nach Shanghai. Indem er die Anordnungen seiner Vorgesetzten ignorierte, seine Karriere und eigene Sicherheit aufs Spiel setzte, handelte er mit Mut, als die meisten anderen dies nicht taten. Die Zahl der von ihm nach Shanghai ausgestellten Visa lässt sich nicht mehr genau bestimmen. Aufgrund der Tatsache, dass einzelne Visa Seriennummern bis annähernd 4.000 hatten, müssen es jedoch mehrere Tausend gewesen sein." Ho sprach nach dem Krieg nie von seiner Rettungsaktion. Seine Tochter erfuhr erst 1997, nach seinem Tod, bei der Sichtung seines Nachlasses davon. 2001 wurde Ho postum in Israel der Titel "Gerechter unter den Völkern" verliehen. Österreich konnte sich nie zu einer offi ziellen Ehrung durchringen.
Telefonbuch
In Shanghai verloren sich die Spuren von Onkel Paul. In den vielen Dokumenten über das Leben der bis zu 20.000 europäischen Juden in Shanghai taucht sein Name nicht auf, auch nicht in der Namens-Liste des Shanghai Jewish Refugees Museums. Ich hatte es fast aufgegeben, bis ich durch Zufall wieder auf ein Telefonbuch stieß -das Shanghai-Telefonbuch aus dem Jahr 1947. Dort fand ich Dr. Paul Kafka zwischen all den chinesischen Namen mit zwei Adressen: 992 Nanking, ein Haus, das heute noch steht, mitten im Zentrum der Stadt. Das scheint seine Wohnadresse gewesen zu sein. Und 219 Hamilton House, eines der letzten berühmten Art Deco Gebäude von Shanghai, das bis in die Fünfzigerjahre Ordinationen von Ärzten beherbergt hatte. Onkel Paul arbeitete offensichtlich in Shanghai weiter als Augenarzt und das einzige Foto, das ich von ihm hatte, passte zu seine Lebensgeschichte.
Doch was geschah nach Shanghai? 1947/1948 verließen die letzten Ausländer Shanghai, da die Übernahme der Stadt durch die kommunistischen Truppen drohte. Die meisten versuchten, mit der Transsibirische Eisenbahn Europa zu erreichen. Nicht so Onkel Paul. Ich fand seinen Namen auf der Passagierliste der "Marine Adder", eines Kriegsschiffs der US Navy. Am 28. Juli 1947 erreichte es den Hafen von San Francisco, an Bord mein Onkel Paul. Er zog weiter nach New York. Ein neuer Ort, ein neues Leben, wieder von vorne beginnen? Eine Wohnung, eine Ordination suchen?
Sterberegister
Es sollte nicht so sein. Im Sterberegister von New York entdeckte ich das Dokument Nr 13222 vom 8. Juni 1948: Paul Kafka, Nationalität: Österreich, verstorben 3. Juni 1948, begraben 8. Juni auf dem jüdischen Friedhof New Montefiori. Identifiziert durch Dr. Emil Schwartzman, unter der Rubrik "Beziehung zum Verstorbenen" stand "Freund". Familie oder Verwandte hatte Onkel Paul in New York keine. Damit endete die Geschichte der Geschwister Kafka aus Mährisch-Ostrau. Opa Fritz starb kurz vor Beginn des Krieges, meine Mutter sprach nie darüber. Tante Irene wurde im Mai 1942 im KZ Ravensbrück ermordet. Onkel Paul hatte sich in Juni 1948 in New York erschossen.