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Peter Sichrovsky
©Bild: News/Ricardo Herrgott
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Chris Koos ist Besitzer eines Fahrradgeschäfts und Bürgermeister der Kleinstadt Normal -drei Stunden südlich von Chicago - mit 55.000 Einwohnern und einer der ältesten Universitäten von Illinois. Er antwortet geduldig auf die Frage, mit der er immer wieder konfrontiert wird, ob er Bürgermeister einer normalen oder nicht normalen Stadt sei, dass sie nach der 'Illinois Normal University' benannt wurde, deren Name nichts mit normal in Bezug auf Verhalten zu tun habe, sondern der Begriff aus der Mathematik komme. Normal - aus dem Lateinischen normalis abgeleitet - bedeutete vor 300 Jahren ein rechter Winkel, später ein rechtwinkeliges Stück Eisen, das Zimmerleute als Werkzeug benutzten. Normal war der sogenannte Carpenter's square -im Deutschen als Schreiner-Quadrat bezeichnet -zwei rechtwinkelige Eisenstücke, die ein Quadrat bildeten. Fünf Städte mit dem Namen Normal gibt es in den USA, in Illinois, Tennessee, Kentucky, Indiana und Alabama, die sich auf das Werkzeug der Handwerker beziehen.

Geometrie

Normal ist ein relativ neues Wort, erreichte Französisch, Englisch und Deutsch erst Anfang des 19. Jahrhundert. In Frankreich tauchte es 1794 auf. Die 'Ecole Normale Supérieure', während der Französischen Revolution gegründet, ist eine Elite-Universität mit 14 Nobel-Preisträgern unter ihren Absolventen. Normal -damals ein Symbol der mathematischen Perfektion. In der Geometrie galten orthogonale Linien als normale Linien, wenn sie in einem rechten Winkel zueinander stehen. Aus dieser optisch perfekten, geometrischen Struktur, von Mathematikern als Symbol der Schönheit bewundert, leiten Sprachwissenschaftler den späteren Übergang des Begriffs als Symbol der Perfektion in die Biologie und Soziologie ab.

Während des 19. Jahrhunderts übertrugen Wissenschaftler zum ersten Mal die Norm -jenseits der Mathematik -in passiver und aktiver Form auf den Menschen, später auf alle Lebewesen. Das Wort verbreitete sich ausgehend vom exakten mathematischen Begriff zum irrationalen Symbol einer unmöglich zu definierenden Vollkommenheit und Zugehörigkeit. Die aktuelle Diskussion, dass Menschen sich unter Normale oder nicht unter Normale einordnen, wäre vor 200 Jahre nicht verstanden worden.

Wirklichkeit

Normal ist gleichzeitig Tatsache und Bewertung, fact and fiction, Realität und Fantasie. Normal betont den Widerspruch, ohne dass er als solcher verstanden wird. Als normal kann ein Zustand beschrieben werden, wie er ist, oder wie er sein soll, widerspricht jeder Logik und wird dennoch als eigene Wirklichkeit verbissen verteidigt.

Das Wort 'normal' - erst ganze 200 bis 300 Jahre alt - drängte sich in alle Lebensbereiche, Naturereignisse, Erwartungen, Bewertungen, Vorurteile und Verurteilungen. Die Internetseite 'buchstaben.com' nennt 312 Wörter, die 'normal' enthalten. Vom Normalbenzin bis stinknormal und zur Normal-Lösung in der Chemie, wenn zum Beispiel ein Liter Normalsalzsäure 36,46 Gramm Chlorwasserstoff enthält.

Im Laufe des 19. Jahrhunderts benutzten es Ärzte zum ersten Mal, um den gesunden Körper zu beschreiben. Haltung, Größe, Zustand der Organe waren dann normal, wenn sie nicht abnormal - verändert, missgebildet oder krank waren. Die Abwesenheit von Krankheit definierte den Normalzustand. Es existierte keine Definition von 'normal'. Diese gibt es bis heute nicht, daher ist die willkürliche Zuordnung das eigentlich Abnormale.

Durchschnitt

Der aus der Mathematik stammende Begriff 'Durchschnitt' ist die Brücke zu unserem heutigen Verständnis von Normalität. Der Schweizer Mathematiker Jakob Bernoulli, der Begründer der modernen Statistik und Wahrscheinlichkeitstheorie schuf die mathematische Grundlage zur Berechnung der Durchschnittswerte. Er war völlig besessen von der Wahrscheinlichkeit von Spielergebnissen, verbrachte Jahre, um für Würfelspiele seine Gewinnchancen zu berechnen.

Hundert Jahre später übertrug der belgische Wissenschaftler, Adolphe Quetelet, die mathematischen Gesetze von Bernoulli auf den Menschen. 1835 begründete er die moderne Sozialstatistik mit der Theorie des normalen 'Durchschnittsmenschen'. Er sammelte Daten über Größe, Gewicht, Haarund Augenfarbe, später Intelligenz und moralisches Verhalten. Er ging davon aus, dass es den perfekten Menschen geben könnte, der dem Durchschnitt aller Werte und Erfahrungen entspricht. Doch selbst er als nüchterner Statistiker verrannte sich in eine Idealvorstellung, die nicht dem mathematischen Durchschnitt aller gesammelten Werte entsprach, sondern seinem eigenen Schönheitsideal. Quetelet veröffentlichte etwa 2.000 Publikationen über Kinder mit Behinderungen, um den Unterschied zu 'normal' zu dokumentieren. Bewusst oder unbewusst schuf er damit die Grundlage der Rassentheorie. Er forderte die Medizin auf, jene, die dem idealen Durchschnittsmenschen nicht entsprechen, zu 'korrigieren'. Die etablierte Medizin begann zu rebellieren, er wurde ausgebuht bei Vorträgen, seine statistischen Methoden kritisiert.

Glockenkurve

Kaum ein anderer hat den Normal-Zustand so sehr geformt wie Francis Galton, (1822-1911), Cousin von Charles Darwin, der mit seinem Buch 'Enforcing Normalcy' die Grundlagen für den modernen Begriff der gesellschaftlichen Norm schuf. Auch Galton stürzte sich mithilfe der Mathematik in die Biologie und versuchte, mit komplexen statistischen Methoden die Norm des Menschen zu erkunden. Er erfand die typische Glockenkurve, die in der Mitte die größte Häufigkeit -nicht die Idealform - und damit die statistische Normalität zeigt. Im Unterschied zu Quetelet bewertete er nicht die Häufigkeit.

In der beginnenden Epoche der industriellen Revolution übernahmen Unternehmen, die mit Automatisierung arbeiteten, seine wissenschaftliche Methodik. Die Hersteller von Handschuhen wussten nun, wie lange im Durchschnitt die Finger erwachsener Männer seien. Die Schuhfabriken berechneten, welche Schuhgröße 40- Jährige Frauen tragen würden. Die moderne Massenherstellung benötigte standardisierte Werte für ihre Produkte. Den Maßanzug konnten sich nur mehr die Reichen leisten. Hosen für Männer im Kaufhaus wurden mit der Länge 'normal' und 'extralang' angeboten, und die Mengen konnten mit Galtons Methoden berechnet werden. Kein Supermarkt könnte ohne konsumorientiertes Marketing bestehen - Einkauf und Angebot wird nach Bedürfnissen des Durchschnitts geregelt.

Genetik

Die tragische Geschichte von Galton ist seine Begründung der Eugenik, der genetischen Wertung der Bevölkerung. Die Werke seines Cousins Charles Darwin über 'natürliche Selektion' und 'überlegene Rassen' motivierten Galton, diese Erkenntnisse auf die Vererbung zu übertragen. Sein Werk 'Hereditary Genius' (1869) ist eine der Grundlagen der Rassentheorie. Galton schreibt von der Möglichkeit,'die Rasse zu verbessern'. Er hoffte auf eine Zivilisation, 'wo der Stolz auf die Rasse ermutigt würde', und erklärte: "... dass es eine größtenteils völlig unvernünftige Sentimentalität gegenüber der schrittweisen Auslöschung einer niederen Rasse gibt". Von der Geometrie zur Statistik, zum Durchschnitt, der Rassenlehre und zu den Mehrheitsverhältnissen einer modernen Demokratie. Ein weiter Weg der Normalität. Das Cambridge Lexikon definiert 'normal': "Ein akzeptierter Standard, ein Verhalten oder eine Tätigkeit, mit der die meisten Menschen übereinstimmen." Mehrheiten entscheiden über Normalität. Die Zugehörigkeit ist jedoch willkürlich und keine mathematische Entscheidung. Es geht um selbstgewählte Gemeinschaften, in denen man sich unabhängig von der Größe verstanden und akzeptiert fühlt.

Normal ist heute für viele nicht erstrebenswert. Sie assoziieren damit das einfältige, gedankenlose und unterwürfige Verhalten der Massen. Mit der Ablehnung des Verhaltens und der Bedürfnisse der Mehrheit, definieren sich manche als das elitäre Gegenteil, suchen jedoch gleichzeitig die zustimmende Gemeinschaft in der Minderheit und leben in der täuschenden Fantasie, mit der kollektiven Ablehnung anders und damit der Mehrheit überlegen zu sein.

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