News Logo
ABO

Neandertaler und Ökoradikalismus: Roman "See der Schöpfung"

Subressort
Aktualisiert
Lesezeit
5 min
Autorin Kushner zeigt ihren neuen Roman
©AFP, APA, HENRY NICHOLLS
Einen Spionageroman über einen weiblichen Agent-Provokateur, der sich in eine der Sabotage verdächtige Kommune einschleust, mit philosophischen Gedanken über Neandertaler und Überlegungen zur 68er-Bewegung zu verbinden - und dabei auch noch mit trockenem Humor und Spannung zu unterhalten: Dieses kühne Kunststück gelang Rachel Kushner mit ihrem nun auf Deutsch erschienenen Roman "See der Schöpfung". Die Booker-Prize-Jury war begeistert und nahm ihn auf die Shortlist 2024.

von

Wenn Protest in Gewalt mündet: "Teil meines Jobs ist es, eine Art Expertin für solche Ereignisse und soziale Bewegungen zu sein, die ihnen vorausgehen (und dafür, wie diese Bewegungen zerstört werden können, entweder von außen oder von innen)", bekennt die Ich-Erzählerin des Buchs, die sich für ihren aktuellen Auftrag Sadie Smith nennt. Die Ex-CIA-Agentin, die nun frei arbeitet ("keine Regeln"), soll eine Kommune in einer bäuerlichen Region Frankreichs infiltrieren. Die Ökogruppe, die Moulinarden, um den Anführer Pascal Balmy wird verdächtigt, für diverse Anschläge in der Gegend verantwortlich zu sein.

Mit Sadie gelang Kushner wie schon im zurecht gefeierten Roman "Flammenwerfer" oder dem Nachfolger "Ich bin ein Schicksal" eine faszinierende Frauenfigur. Erst langsam, in einer Art von Rückblenden, erfährt man etwas mehr von dieser Agentin mit der umwerfenden Figur und dem unscheinbaren Gesicht (wie sie sich selbst beschreibt), die dem ältesten Freund Balmys ihre Liebe vortäuscht, um Zugang zur Kommune zu erhalten. Auch wenn von ihrer Vergangenheit nur Bruchstücke bekannt werden, offenbart sich doch der tiefere Charakter hinter der trinkenden ("nach ein paar Drinks fahre ich besser") und Menschen skrupellos hintergehenden Person. Ganz langsam sickert die Verletzlichkeit dieser scheinbar eiskalten Frau durch.

Die Bemerkungen Sadies zur europäischen Kultur (für die sie nur Verachtung übrig hat), über die Opfer ihrer Täuschung (die sie eiskalt abserviert) und das "kolossale Scheitern der linksradikalen Bewegung" (wie sie resümiert) bringen Zynismus in die Story, die von der Wiedergabe zahlreicher Mails durchbrochen wird. Denn die Agentin hat sich in den Account von Bruno Lacombe gehackt, dem Guru der Kommune. Dieser, ein (fiktiver) Mitstreiter des (realen) französischen Schriftstellers Guy Debord, beide in der 68er-Bewegung engagiert, lebt mittlerweile in einer Höhle und verlässt diese nur zum Mailschreiben an die Moulinarden. Bruno verfasst exzentrische Theorien über die Neandertaler, eine für ihn oft missverstandene Spezies, von der man viel lernen könne.

Der Guru sinniert auch über die Cagots, eine (reale) Personengruppe, die vom 13. bis weit ins 19. Jahrhundert hinein in Spanien und Frankreich diskriminiert wurde. Kushner webt ein dichtes Netz aus Fakten und Fiktion. Eine Randfigur erinnert unverblümt an Michel Houellebecq, eine andere kennen aufmerksame Kushner-Leser aus "Flammenwerfer". Auch Louis Ferdinand Céline, bis heute in Frankreich gefeierter Autor, Antisemit und Kollaborateur im Zweiten Weltkrieg, spielt irgendwie eine Rolle.

"Das Elektrisierende an diesem Roman ist die Verknüpfung von aktueller Politik mit einer dunklen Gegengeschichte der Menschheit", urteilte die Booker-Prize-Jury. Es steckt viel Weisheit in der wilden Geschichte, die bei einem Protest auf einer Landwirtschaftsmesse gegen ein Megabassin, das den Bauern das Wasser abgräbt, in ein Attentat zu gipfeln droht. In diese Richtung agitiert Sadie - und wenn gegen Ende ihre Auftraggeber bekannt werden, offenbart sich erst recht, wie schmutzig Politik sein kann. Da passt ein Kommentar Brunos perfekt: "Aktuell", schreibt er, "steuern wir in einem funkelnden, führerlosen Wagen auf die Auslöschung zu, und die Frage ist: Wie steigen wir da aus?"

Kushner liefert mit "Creation Lake" (Originaltitel) ein weiteres Meisterstück ab. Diesmal zieht sie ihr Publikum in die Weltsicht eines Bösewicht, wie man Sadie durchaus bezeichnen kann. Zugleich legt sie Mechanismen und Schieflagen in radikalen (Öko-)Bewegungen und Machenschaften der Gegenseite offen, verpackt in eine ungewöhnliche Art von Thriller, noir und tiefgründig. Die sprachliche Qualität geht übrigens in der Übersetzung von Bettina Abarbanell nicht verloren.

(Von Wolfgang Hauptmann/APA)

(S E R V I C E - Rachel Kushner: "See der Schöpfung", aus dem Englischen von Bettina Abarbanell, Rowohlt Verlag, 480 Seiten, 27,50 Euro. https://rachelkushner.com)

Über die Autoren

Logo
Ähnliche Artikel
2048ALMAITVEUNZZNSWI314112341311241241412414124141241TIER