Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner legt sich mit Vorliebe mit der EU und ihren bürokratischen Vorschriften an. Doch auch Österreichs Bürokratie gehört überdacht, gibt sie zu. Sie meint: Zu viel Zettelwirtschaft treibe Wählerinnen und Wähler nach rechts zu den "Antieuropäern".
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IHS und Wifo haben eine düstere Konjunkturprognose veröffentlicht. Die Arbeitslosigkeit steigt zudem. Die Politik wäre gefordert. Warum blieb sie nach den mahnenden Worten so ruhig?
Ich betrachte das aus der Niederösterreich-Perspektive. Wir haben die Rezession gut hinter uns gebracht. Die Wirtschaftslage ist relativ stabil, weil wir breit aufgestellt sind und viele Klein- und Mittelbetriebe haben. Wir sind nicht abhängig von einer Branche wie andere Bundesländer. Aber klar ist, dass die Wettbewerbsfähigkeit gestärkt und Bürokratie abgebaut werden muss – nicht nur in Österreich, sondern in ganz Europa. Denn es kann nur dann Wohlstand geben, wenn wir wettbewerbsfähig sind. Geht der Wohlstand verloren, gerät der Zusammenhalt der Gesellschaft ins Rutschen. Daher gibt es Handlungsbedarf. Wir sehen, wie sich die USA in den letzten Jahren entwickelt hat und wie Europa. Die USA setzen auf Anreize und Innovation. Die EU auf Verbote und Gebote. Es ist nicht schwer zu erraten, welche Strategie die bessere ist. In den USA ist die Wirtschaft seit 2010 doppelt so schnell gewachsen wie in Europa.
Wifo-Chef Felbermayr spricht von sechs "verlorenen Jahren". Das entspricht der Dauer der ÖVP-Kanzlerschaft. Was ist versäumt worden?
Es hat in dieser Zeit internationale Krisen gegeben, die Unsicherheit hervorgerufen haben. Viele sind da natürlich auf der Investitionsbremse gestanden, das ergab eine Rückkopplung auf die Wirtschaftslage. Daher brauchen wir positive Rahmenbedingungen und weniger Bürokratie, denn die ist schon eine Geißel für die gesamte Gesellschaft.
Der Staat hat in diesen Krisen viel Geld in die Wirtschaft gepumpt. Trotzdem ist die Stimmung so schlimm wie schon lange nicht.
Die Wirtschaftsforscher sagen voraus, dass die Konjunktur 2025 anspringen wird. Bis dahin ist es die Pflicht der öffentlichen Hand, Maßnahmen zu setzen. Das Wohnbaupaket war da ein guter Schritt. In Niederösterreich investieren wir dazu noch Millionen in den Kindergartenausbau, in die Infrastruktur und in die Digitalisierung. Und vor allem setzen wir massiv auf Forschung und Entwicklung für die Industrie der Zukunft und die gut bezahlten Arbeitsplätze der Zukunft. Das ist unsere Mission Nobelpreis.
Nach Corona wurde der Einsatz von Steuergeld kritisiert. Es war vom "Nanny-Staat" die Rede, der den Leuten die Verantwortung abnimmt. Beim Wachstum ist Österreich unter den Schlusslichtern in Europa.
Österreich hat es geschafft, dass wir bei der Kaufkraft ganz oben stehen. Das ist der andere Teil der Wahrheit. Unsere Landsleute können mehr konsumieren als andere Europäer. Österreich ist aber auch ein Land mit besonders hohen Umweltstandards, hohen Sozial- und Lohnkosten. Daher müssen wir nun Anreize schaffen, dass die Leute statt Teilzeit Vollzeit arbeiten, dass Pensionisten, die einen Job annehmen wollen, keine Pensionsversicherungsbeiträge zahlen müssen, dass Überstunden steuerfrei sind. Denn der Wohlstand unseres Landes begründet sich auf Leistungsbereitschaft und Fleiß. Darum müssen die Fleißigen auch entlastet werden.
Die Leute konsumieren nicht, obwohl die Einkommen stabil sind. Daher springt die Wirtschaft nicht an.
Der Wirtschaftsforscher Christian Helmenstein hat vor Kurzem erklärt, dass es nach einer Krise ungefähr ein Jahr dauert, bis die Menschen wieder Vertrauen haben und das Geld tatsächlich auch ausgeben.
Davor sind noch die Nationalratswahlen. Wie werden die ausgehen, wenn die Stimmung so ist wie jetzt?
Die Wahl ist eine große Chance, offen darüber zu diskutieren, wer dieses Land in welche Zukunft führen will. Dass Wohlstand nur erhalten werden kann, wenn Leistung erbracht wird und Leistung belohnt wird. Wenn Menschen, die mehr leisten auch mehr in der Tasche haben. Wer Leistung bringt, darf nicht der Dumme sein.
Hält man die Menschen nicht für dümmer, als sie sind, wenn man behauptet, sie würden den Zusammenhang zwischen Leistung und Wohlstand nicht verstehen?
Das ist die falsche Frage. Die Frage ist, welcher Spitzenkandidat den Zusammenhang versteht. Die Teilzeitquote ist bei uns zum Beispiel sehr hoch. Natürlich hat da auch ein Paradigmenwechsel stattgefunden. Früher hat man, wenn die Arbeitslosigkeit hoch war, politische Maßnahmen gesetzt, damit die Leute in Teilzeit oder in Frühpension gehen. Heute brauchen wir aufgrund der demografischen Entwicklung Anreize für das Gegenteil.
Steckbrief
Johanna Mikl-Leitner
Die Niederösterreicherin hat Wirtschaftspädagogik studiert und unterrichtet, war Trainee in der Industriellenvereinigung und im Signum Verlag beschäftigt. Erwin Pröll holte sie in die Politik. Sie war Marketingchefin der ÖVP NÖ, später Landesgeschäftsführerin und Nationalratsabgeordnete. Regierungserfahrung sammelte sie als Soziallandesrätin in Niederösterreich und als Innenministerin. 2016 holte Pröll sie in die Landesregierung zurück, 2017 wurde sie Landeshauptfrau.
Die ÖVP führt seit den 1980er-Jahren das Wirtschaftsministerium, seit 2007 das Finanzministerium. Sie hätten schon früher etwas tun können.
Wie gesagt, die Voraussetzungen sind heute auch andere als Ende der 80er-Jahre. Die Auflagen und Berichtspflichten haben überhandgenommen. In Europa wurde in den letzten Jahren mit dem Green Deal ein Bürokratiemonster geschaffen. Das hat die Wirtschaft gebremst. Ich finde, Gesetze brauchen ein Ablaufdatum, zu dem Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit des Gesetzes evaluiert wird.
Der Nationalrat hat in der zu Ende gehenden Legislaturperiode etwa drei Mal so viele Gesetze beschlossen, wie es in dieser Zeit Rechtsakte der EU gegeben hat. Wir schaffen unsere Bürokratiemonster selbst.
Daher nehme ich die Bundesebene von meiner Kritik nicht aus. Und auch wir im Land schauen immer wieder, wo wir Bürokratie abbauen können.
Bei EU-Beschlüssen sitzt Österreich mit am Tisch. Warum beklagt man sich dann über Bürokratiemonster, die man hätte verhindern können?
Viele Dinge sind gut gemeint, aber letztendlich schlecht gemacht. Ich denke da etwa an die Nachhaltigkeitsberichte, die Firmen erstellen müssen. Manche müssen dafür sogar eigenes Personal einstellen. Dabei werden diese Berichte nicht angeschaut, evaluiert oder sonst etwas. Solche Dinge kann man sich sparen. Genauso das Lieferkettengesetz. Wie soll ein Kleinbetrieb seine Lieferkette bis ins letzte Detail überprüfen? Das ist nicht administrierbar. Da kann man nur sagen: Zurück zum Start.
Bei uns werden EU-Regeln oft komplizierter umgesetzt als anderswo.
Ja, wir sind Meister im Goldplating. Auch da wäre dringend mehr Vernunft und Hausverstand angesagt.
Die Aufstiegserzählung, die in Österreich lange funktioniert hat, gilt nicht mehr. Der Pessimismus ist groß. Haben wir verlernt, zufrieden zu sein?
Die Geschichte hat uns gelehrt, dass Veränderung ein ständiger Begleiter ist. Die Konkurrenz innerhalb Europas und der Wettbewerb zwischen den Kontinenten ist größer geworden. Aber die Herausforderungen sind stemmbar. Um die positive Stimmung und den Konsum voranzutreiben, muss man nur ehrlich sagen: Wir leben in einem der reichsten Länder der Welt, mit einem unvergleichlich guten Sozial- und Gesundheitssystem. Wir leben in einem Land, das Wissenschaft und Forschung auf Weltniveau betreibt, und wo es wirtschaftlich immer noch gut läuft. Aber, ja, die neue EU-Kommission hat große Aufgaben vor sich. Es geht um unsere Wettbewerbsfähigkeit gegenüber China, Indien und den USA. Denn ohne Wettbewerbsfähigkeit kein Wohlstand.
Die anhaltend schwierige Lage treibt die Leute bei den Wahlen nach rechts. Was setzen Sie dem entgegen?
Man muss einmal offen sagen, dass jede neue bürokratische Auflage für den Aufschwung der Antieuropäer sorgt.
Die Leute wählen doch nicht wegen der Bürokratie FPÖ oder AfD.
Selbstverständlich ist das einer der Gründe. Da empfehle ich, einmal durchs Land zu fahren und mit den Unternehmerinnen und Unternehmern, den Landwirtinnen und Landwirten zu reden. Mir hat letztens ein Landwirt eine zwei Seiten lange Liste hergelegt, wer ihn aller kontrolliert. Das hat mit Vernunft und Hausverstand nichts mehr zu tun und hilft natürlich den Antieuropäern. Europa soll sich um die großen Dinge kümmern. Ein ganz konkretes Beispiel wäre die Vereinheitlichung der Bahnsysteme. Das würde dem Güterverkehr auf der Schiene einen Schub verleihen und vor allem dem Klima etwas bringen. Da könnte man unheimlich viel CO2 sparen. Das wäre eine angemessene Mammutaufgabe für Europa und nicht, auf welchem Dach man eine Fotovoltaikanlage montieren darf.
Weniger Bürokratie brächte Zufriedenheit und weniger Rechtsruck? Warum dauert dann der Bürokratieabbau in Österreich so lange?
Natürlich sind alle Ebenen gefordert. Und natürlich geht es nicht nur um Bürokratieabbau. Es geht auch darum, dass wir härter gegen Integrationsunwillige vorgehen. Und das fängt schon in der Schule an. Wir müssen den Lehrerinnen und Lehrern die freie Möglichkeit in die Hand geben, härtere Geldstrafen durchzusetzen bei Respektlosigkeiten und Gewalt gegen Mädchen und Frauen. Und bei Sozialhilfeempfängern muss man die Leistungen so lange streichen, bis verstanden wird, dass das Leben von Mädchen genauso viel wert ist wie das von Männern. Das gehört ins Pflichtenheft einer neuen Regierung.
Der Chef des Fiskalrates, Christoph Badelt, kritisiert das angespannte Bundesbudget. Muss die neue Regierung mit einem Sparpaket starten? Und wie wird sich das auf die schlechte Stimmung auswirken? Welche Möglichkeiten sehen Sie, das Budget in den Griff zu bekommen?
Da gibt es eine klare Antwort – das Wirtschaftswachstum vorantreiben. Je besser die Wirtschaft läuft, desto mehr gut bezahlte Arbeitsplätze und desto mehr Einnahmen gibt es. Daher volle Konzentration auf die Wettbewerbsfähigkeit Österreichs.
Und bei den Staatsausgaben?
Ich will da der Bundesebene nichts vorschreiben. Wir haben uns in Niederösterreich auf jeden Fall festgelegt, das Bugdetdefizit bis 2030 Schritt für Schritt zu senken. Zudem haben wir uns die klare Aufgabe gestellt zu prüfen, wo ist die Verantwortung des Staates. Was hat die öffentliche Hand zu tun und wo kann sie sich zurücknehmen?
Wahljahre sind nicht die besten Zeiten für harte Ansagen, die es vielleicht auch brauchen würde. Sollte die Politik nicht dennoch den Leuten reinen Wein einschenken und sagen, was in Zukunft vielleicht nicht mehr geht? Oder was nötig ist, etwa bei Pensionen und Arbeitszeit?
Ich finde, Wahlkampfzeiten sind die spannendsten und interessantesten in der Politik, weil man da in einem besonders intensiven Dialog mit der Bevölkerung ist und das Interesse an Politik noch einmal größer ist. Und ich habe schon das Gefühl, dass die Menschen wissen, dass es mit einer 32-Stunden-Woche sicher nicht gehen wird, weil es, um den Wohlstand zu sichern, eine Leistungsorientierung braucht. Die Menschen sind bereit, Leistung zu erbringen, aber es muss sich für sie lohnen. Ich verstehe jeden Pensionisten, der gerne weiterarbeiten würde, aber sagt, wenn ihm nichts davon bleibt, dann bleibt er doch lieber daheim.
Die Wirtschaft äußert Wünsche Richtung 41-Stunde-Woche, will den ersten Krankenstandstag nicht mehr bezahlen. Viele Experten sagen, das Pensionsalter muss steigen.
Was die Pensionen betrifft, muss man erst einmal schauen, dass man das faktische Pensionsantrittsalter Richtung gesetzliches Antrittsalter bekommt. Zweitens sollten wir wirklich Anreize schaffen, was die Überstunden betrifft. Jede Stunde über der Regelarbeitszeit sollte steuerfrei sein. Wer nach dem Pensionsantrittsalter einen Job annimmt, sollte pensionsversicherungsfrei gestellt werden. Das wären große Schritte, die der Wirtschaftskraft helfen. Außerdem brauchen wir gezielte Zuwanderung, müssen mehr in den Wettbewerb um die besten Köpfe investieren.
Das hören wir schon lange.
Dazu müssen wir die Rot-Weiß-Rot-Karte noch weiter verbessern. Wir brauchen Pflegekräfte aus Ländern wie Vietnam oder Kolumbien. Da hat der Herr Bundeskanzler einen wirklich guten Vorschlag gemacht, nämlich, dass man die Nostrifiziereung der Ausbildung nicht pro Person vornimmt, sondern pro Land. Das würde die Dinge wesentlich beschleunigen.
Sollten wir nächstes Jahr wieder ein Sommerinterview führen – ist dann immer noch Krisenstimmung?
Ich bin ja grundsätzlich eine Optimistin. Wenn Karl Nehammer weiterhin unser Bundeskanzler ist, dann werden wir sicherlich in die richtige Richtung gehen.
Es besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass er das nicht ist.
Ich glaube an den Plan A.
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 29/2024 erschienen.