Private Nachhilfe boomt, von der Volksschule bis ins Studium. Macht das Bildungssystem seinen Job nicht ordentlich?
Nein. Bildungserfolg ist in Österreich ein privatisiertes Gut. Das ist der Kern des Problems. Das Schulsystem gibt zwar einen Rahmen vor, bietet aber nicht die nötigen Strukturen für tatsächlichen Lernerfolg. Das hat gravierende Auswirkungen: Jedes Jahr zahlen Eltern in Österreich mehr als hundert Millionen Euro für private Nachhilfe. Mit fast 6 von 10 Schülerinnen und Schüler lernen die Eltern mindestens einmal oder mehrmals in der Woche. Mit einem Viertel der Kinder lernen Eltern sogar so gut wie täglich. Und 22 Prozent sagen, sie können sich keine private Nachhilfe leisten, obwohl ihr Kind sie bräuchte. Die Politik übernimmt in Österreich keine Verantwortung dafür, dass jedes Kind die gleiche Chance auf Erfolg in der Schule hat. Diese hohen Summen, die aus privaten Taschen kommen müssen, sind die Konsequenz davon. Das führt dazu, dass Bildungserfolge in Österreich vor allem vom Elternhaus abhängen. Die Teuerung verschärft diese Ungerechtigkeit.
Welche Maßnahmen braucht es, um die Verantwortung tatsächlich wahrzunehmen?
Es muss klare, neue Regeln geben. Erstens, Bildung muss in der Schule stattfinden. Wir brauchen einen möglichst raschen Ausbau der Ganztagsschulen und mehr Unterstützung für Schülerinnen und Schüler, die in den regulären Unterrichtsstunden nicht mitkommen. Das Bildungsministerium muss mehr Förderstunden und Lehrkräfte zur Verfügung stellen, anstatt Kinder mit einem ganzen Rucksack voller Hausaufgaben nach Hause zu schicken. Denn genau hier beginnt die soziale Selektion: Wenn Eltern keine Zeit haben oder über keinen ausreichenden Bildungsstand verfügen, bleibt das Kind mit dem Lernstoff zurück.
Das sind Vorschläge, für die momentan im Bildungssektor die Ressourcen fehlen.
Ja, für die Umsetzung der Ganztagsschule brauchen alle Schulen genügend finanzielle Mittel. Einige Direktorinnen und Direktoren stehen vor größeren Herausforderungen als andere. Sie brauchen psychosoziale Hilfe für Schüler oder mehrsprachige Elternbetreuung. Die Katze beißt sich selbst in den Schwanz: Schlecht ausgestattete Schulen bieten schlechte Arbeitsbedingungen, deswegen brennen Pädagogen systematisch aus. Gleichzeitig gibt es einen eklatanten Lehrermangel, den das Bildungsministerium jahrelang negiert hat.
Im Jänner hat Bildungsminister Martin Polaschek neue Lehrpläne vorgelegt. Entsprechen die neuen Inhalte einer "modernen Schule"?
Die neuen Lehrpläne waren ein wichtiger Schritt, bleiben aber hinter den Anforderungen zurück. Mir fehlen hier weiterhin grundlegende, strukturelle Veränderungen. Wir müssen im Schulwesen insgesamt umdenken: Künstliche Intelligenz und ChatGPT machen Frontalunterricht und bloßes Auswendiglernen obsolet. Wir stecken mitten in einem Strukturwandel im Arbeitsmarkt. Herausforderungen wie die zunehmende Digitalisierung und die Dekarbonisierung der Wirtschaft werden wir ohne entsprechend ausgebildete Menschen nicht schaffen.
Welche neuen Fähigkeiten müssen junge Menschen aus der Schule mitnehmen, um am modernen Arbeitsmarkt, Stichwort künstliche Intelligenz, bestehen zu können?
Die Erwartungen am Arbeitsmarkt werden sich in den nächsten Jahren klar verschieben. Wir sollten nicht länger nur daran denken, wie wir möglichst viel Einzelinformation in die Köpfe von Schülerinnen und Schülern hineinhämmern. Wir sollten eher überlegen, wie wir junge Menschen aktiv in den Unterricht einbinden. Traditioneller Frontalunterricht fördert die Kernkompetenzen von morgen nicht. Die Frage wird sein: Wie gut können junge Menschen Probleme lösen? Wie gut können sie Informationen kritisch einordnen? Die Fähigkeit, kritischen Fragen standzuhalten, wird eine KI in den nächsten Jahren noch nicht ersetzen können.
Nächste Woche schreiben Tausende Schülerinnen und Schüler die Matura. Früher war sie ein Türöffner - ist die Matura heute noch etwas wert?
In ihrer aktuellen Form ist die Matura ein überholtes Konzept. Sie zielt stark auf das Teaching-to-the-Test-System ab, das in den Schulen fest verankert ist. Schüler und Lehrer sind darauf konditioniert, für eine Prüfung zu lernen, möglichst viel Information dort wiederzugeben, um dann wieder alles zu vergessen. In einer wissensbasierten Gesellschaft wie der unseren ist das die denkbar schlechteste Ausgangslage für eine weitere Bildungskarriere. Gleichzeitig sind mit der Matura alle vorherigen Bemühungen, die Kinder in die Schule stecken, sozusagen passé. Das kann es nicht sein. Wir müssen jene Kompetenzen in den Vordergrund rücken, die Schülerinnen und Schüler auch tatsächlich später für ihr Privat-und Berufsleben brauchen. Besonders im Gymnasium wird das letzte Jahr ausschließlich darauf verwendet, sich mit hängender Zunge auf die Zentralmatura vorzubereiten. Im angeblichen Sommer ihres Lebens müssen sie sich oft auf die nächste Prüfung, den Aufnahmetest für ihren Wunschstudiengang vorbereiten. In Studienfächern mit harten Aufnahmebeschränkungen haben wir eine ganz klare soziale Selektion. Ein Beispiel: Über 70 Prozent der Studierenden in der Human- und Zahnmedizin stammen aus einem Elternhaus, in dem der Vater bereits studiert hat.
100 Mio. Euro aus privater Tasche bezahlen Eltern in Österreich mindestens jedes Jahr für Nachhilfe, um ihre Kinder durch ein Schuljahr zu bringen
Warum haben viele Maturanten das Gefühl, anschließend einen Vorbereitungskurs für einen Aufnahmetest zu brauchen? Ist eine Matura kein Garant mehr für einen gewissen Wissensstand?
Dass sich Maturanten nicht gut auf Herausforderungen nach der Schule vorbereitet fühlen, ist eine Folge der Teaching-to-the-Test-Kultur. Wenn man den Stoff stets nur für eine spezifische Prüfung lernt, kann das Wissen später nicht in neuen Kontexten angewandt werden. Wenn wir hingegen anwendungs- und problemlösungsorientiert lehren und prüfen, können Maturanten ihr Wissen auch in anderen Settings leichter abrufen. Der Bildungssektor muss sich die Frage stellen: Mit welchen Arbeitskräften, welchen Kompetenzen und welchen Problemstellungen werden wir in Zukunft konfrontiert sein? Dann müssen wir rasch handeln, und das Bildungssystem entsprechend umstellen.
Sie betonen immer wieder die Bedeutung einer guten Berufsorientierung in der Schule. Warum?
Wir lassen die Kids auf dem Weg der Berufsorientierung oft allein. Es braucht Zeit und Raum, um den Blick für die eigenen Stärken und Interessen zu schärfen. Das passiert in der Teaching-to-the-Test-Kultur natürlich nicht. Das führt dazu, dass viele ihre Erstausbildung abbrechen. An den Universitäten gibt es verschiedene Untersuchungen, die ganz klar zeigen, dass Studierende teilweise mit falschen Vorstellungen in ein Studium starten -um dann festzustellen, dass es gar nicht das ist, was sie sich erwartet haben. Was auch viel zu wenig Eingang findet, ist die persönliche Haltung von Studierenden. Es ist wichtig, aus welchen Überzeugungen heraus sie einen Job ergreifen wollen. Gerade bei Jus oder Medizin stehen zu selten gesellschaftliche Ansprüche, denen ein junger Mensch gerecht werden will, im Vordergrund.
Was macht das mit einer Gesellschaft, wenn in erster Linie Kinder aus gutem Hause hochrangige Jobs besetzen?
Bei Ärzten zum Beispiel führt das dazu, dass Einblicke in verschiedene soziale Milieus fehlen. Dann arbeiten zunehmend Menschen in Krankenhäusern, die eine schwere Diagnose nicht simpel, für Menschen ohne hohen Bildungsgrad verständlich erklären können. Wenn wir beispielsweise in den Bereich Rechtswissenschaften schauen: Wenn die öffentliche Verwaltung nicht durchmischt ist, wenn sie keine unterschiedlichen Einblicke in gesellschaftliche Realitäten hat, werden sich die Sichtweisen verengen. Das führt zu schlechterer Qualität.
Mit der Lehreroffensive sollen jetzt Quereinsteiger ins Klassenzimmer kommen. Werden Menschen aus der Praxis das Teaching-To-The-Test-Dogma auflockern?
Das ist zu hoffen. Aber wir dürfen nicht naiv sein: Die veralteten Arbeitsstrukturen sind sehr machtvoll. Wir müssen stark darauf achten, dass engagierte Quereinsteiger:innen, die jetzt beseelt in die Schulen drängen, nicht ebenso verbrennen, einen Praxis-Schock bekommen und frustriert aufhören wie ihre Kollegen. Damit die Lehreroffensive funktioniert, wird es Coachingmodelle und gezielte Unterstützung von erfahreneren Kollegen brauchen.
Seit September 2021 ist Ilkim Erdost als Bereichsleiterin für Bildung, Konsument:innen Wien in der Arbeiterkammer Wien tätig. Die Wienerin mit türkischen Wurzeln kommt aus dem Bildungs- und Integrationsbereich. Zuvor war Ilkim Erdost drei Jahre lang Geschäftsführerin des Vereins Wiener Jugendzentren und sechs Jahre als Direktorin der Volkshochschulen in Ottakring und Hernals tätig.
Dieses Interview erschien ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 17/2023.