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„Bürgerliche Kunstkacke“: Übernimmt Matthias Lilienthal die Wiener Festwochen?

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Matthias Lilienthal
©Bild: imago images / Lindenthaler
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Noch ein Gerücht, aber kein beruhigendes: Der Berliner Matthias Lilienthal, unfreundlich abgegangener Intendant der Münchner Kammerspiele, soll ab Herbst die Wiener Festwochen leiten. Wieder würde dann ein interessanter Theatermensch an den denkbar falschen Platz gelockt.

Wenn jemand, unbeeindruckbar durch Fakten und Erfahrungen, von seinem Weg keinen Schritt abweicht, zeugt das fraglos von Konsequenz. Die Aussicht, dass der Weg dann wie unter dem Einfluss eines defekten Navigationsgeräts in eine Schlucht führt, ist allerdings keine unrealistische. Und so gebe ich bang die halbwegs unterfütterte Nachricht weiter, dass im Binnenimperium der Wiener Kulturstadträtin Kaup-Hasler der Nachfolger des abgegangenen Intendanten der Wiener Festwochen angeblich schon gefunden sein soll: Auf den Belgier Christophe Slagmuylder soll der Berliner Matthias Lilienthal folgen, 63 Jahre alt und im Sommer 2020 nicht freiwillig aus der Intendanz der Münchner Kammerspiele geschieden. Sollte es so kommen (aus dem Stadtrat-Büro ist keine Auskunft zu erhalten), würde mich die Entscheidung keineswegs beruhigen.

Weshalb? Weil Lilienthal quasi ein Double des gescheiterten Amtsinhabers ist, ein Slagmuylder für Wohlhabende sozusagen. Der Belgier sollte im Herbst unauffällig durch die verpflichtende Ausschreibung in die zweite Amtszeit gewinkt werden. Gerade noch rechtzeitig wurde damals öffentlich, dass die Festwochen bei gleicher Subvention viel weniger Karten als je zuvor aufgelegt hatten. Der Zulauf war dennoch bescheiden, und das verwundert Kundige nicht: Die Festwochen, einst ein führendes Theater- und Opernfestival, für dessen Karten man sich stets lang (und oft vergebens) anstellen musste, waren zum tourneebasierten Wald-und-Wiesen-Event mit Performance- und Tanzschwerpunkt niedergefahren. Die wenigen Eigenproduktionen verliefen teils blamabel. Das Einzige, womit man das Publikum interessieren konnte, waren zwei vergleichsweise traditionelle Theatergastspiele aus Paris mit den berühmten Schauspielerinnen Isabelle Huppert und Adèle Haenel. Das genügte weder dem Publikum noch der Kritik: Slagmuylder orientierte sich plötzlich wieder nach Brüssel, und die Ausschreibung musste unter ernsthafteren Voraussetzungen wiederholt werden.

„Bürgerliche Kunstkacke“

Dass es schon vor ihrem Obwalten eine stadträtliche Spitzenoption gab, ist indes im Wiener Kulturamt kein Geheimnis: Lilienthal war schon vor Slagmuylders Kür der Favorit der Politikerin, wollte aber seinen Münchner Vertrag zu Ende erfüllen. Nunmehr als „Berater der Münchner Philharmoniker“ in eher rätselhaften Verhältnissen, hat er allerdings Zeit für Wien. Und wäre hier, so muss prognostiziert werden, so falsch, wie er nur sein kann.

Das bedeutet keinesfalls, dass er nicht ein animierender, charismatischer Theatermensch wäre. Er hat als Dramaturg mit Achim Freyer, Frank Baumbauer und Christoph Marthaler gearbeitet und als Frank Castorfs Stellvertreter an der Berliner Volksbühne Geschichte geschrieben. Er gleicht in dieser Hinsicht, nur zwei Ligen höher, Kaup-Haslers zweiter Trophäe, dem Volkstheaterdirektor Kay Voges. Der hatte in Dortmund seinen Platz und spielt in Wien – eine selten gezeigte, offenbar gelungene Jandl-Produktion ausgenommen – trotz gesperrten Rangs vor leerem Haus.

Wie Voges hat auch Lilienthal von Wien und den Anforderungen seines Publikums keine Ahnung. Man kann sich die Verhältnisse vom gleichfalls eher traditionsverbundenen München hochrechnen: Als Lilienthal dort antrat, ließ er gleich wissen, er werde die „bürgerliche Kunstkacke“ entsorgen. Wenig später kündigten ihm namhafte Ensemblemitglieder, an ihrer Spitze Brigitte Hobmeier, die den erlernten Beruf gern weiter ausüben wollten. Denn was sich ein kundiges, erfahrenes Publikum vom Theater erhofft, wurde radikal zugunsten eines diversitätspolitisch getriebenen Performance- und Diskursspielplans abgemeldet. Die angesehene „Süddeutsche“ diagnostizierte „Münchner Jammerspiele“.

Und damit sollen die Wiener Festwochen gerettet werden, in deren Auftrag einst Nikolaus Harnoncourt das Opern-Genre radikalreformiert und Luc Bondy ein international bewundertes Welttheatertreffen ausgerichtet hat?

2018 verweigerte die mitregierende CSU Lilienthals Vertragsverlängerung ab 2020: Zuvor hatte er sich verantworten müssen, weil die Auslastung des Hauses auf 63 Prozent gesunken war und sich die Abonnenten in Scharen davongemacht hatten. Die regierende SPD äußerte maximal höfliches Bedauern. 2019, im letzten Jahr vor Corona, meldeten die Kammerspiele allerdings unversehens mehr als 80 Prozent Auslastung. Wie die lukriert wurden, darüber hat nicht spekuliert zu werden. Auch hatte sich unverzüglich die Feuilletonblase zum Entsatzheer für ihren Liebling formiert: Die Kammerspiele wurden zum deutschsprachigen Theater des Jahres gewählt, des Lamentierens über den Verlust war kein Ende.

Diese Vorgänge erinnern alarmierend an die aktuellen um das Wiener Volkstheater: Unter Brüskierung namhafter und qualifizierter Bewerber hatte die Stadträtin den Dortmunder Intendanten Kay Voges aus einer nicht näher namhaft zu machenden Kopfbedeckung gezogen. Voges hatte das Haus bei seiner Ernennung nur einmal betreten, und zwar als Besucher einer Probe für ein deutsches Festwochengastspiel. Das Ensemble wurde mehrheitlich gekündigt, die schon vorher miserablen Besucherzahlen rasten in den Abgrund, die letzten Abonnenten empfahlen sich, Voges’ Rückzug wurde in den Raum gestellt. Auch hier allerdings leitete ein bestimmtes Segment meiner geschätzten Kollegenschaft unverzüglich Rettungsmaßnahmen ein: Vier Wien-ansässige von 45 Kritikern reichten, um das Haus über das Fachorgan „Theater heute“ zum zweitbesten des Sprachraums zu wählen. Die Krone ging nach Bochum, wo man bei halbleerem Haus verharrt. Der dortige Dramaturg ließ daraufhin öffentlich wissen, man könne sich durch ein offenbar inkompetentes Publikum nicht vom Weg der Erleuchtung abbringen lassen.

Und jetzt ein noch ernsteres Wort: Die Festwochen brauchen dringend Rückbesinnung auf Zeiten, die noch 2016 Markus Hinterhäuser, heute Intendant der Salzburger Festspiele, verkörpert hat. Sven-Eric Bechtolf fiele einem da ein, der anno Helga Rabl-Stadler in Salzburg erstklassiges Krisenmanagement betrieben hat. Oder Roland Geyer, der das Theater an der Wien in Idealverfassung übergeben konnte. Oder Barbara Frey? Sie wollte von der Ruhrtriennale nicht an die „Burg“ wechseln. Lägen ihr die Festwochen womöglich mehr? Wie der Fall Slagmuylder beweist, ist es nie zu spät, sich unglücklichen Entwicklungen entgegenzustellen.

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