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Von Auschwitz zum Schneider der Prominenz

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Peter Sichrovsky
©Bild: News/Ricardo Herrgott
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Sechs US-Präsidenten und der Boss der Mafia trugen Anzüge von Martin Greenfield. Als einzig Überlebender seiner Familie erreichte er völlig mittellos 1947 die USA und begann als Hilfsarbeiter in einer Kleiderfabrik.

Präsidenten, Bürgermeistern, Polizeidirektoren, Basketball- und Film-Stars und dem Boss der Mafia prüfte er mit dem Maßband die Länge der Arme, der Beine, Bauch- und Brustumfang und die Schultern. Martin Greenfield, der ewig scherzende Schneider in Brooklyn, der seinen Akzent nie ganz verlor, versorgte Jahrzehnte lang einflussreiche Männer mit perfekten Anzügen. Er schwieg jedoch über seine Kindheit und Jugend. Sie blieb lange sein Geheimnis, bis er, schon weit über achtzig, seine Biografie veröffentlichte und viele seiner berühmten Kunden erschrocken reagierten.

Der 16-jährige Maximilian Grünfeld – später nannte er sich Martin Greenfield – erreichte Auschwitz zusammengepfercht mit über hundert jüdischen Frauen, Männern und Kindern in einem Viehwaggon – unter ihnen Joseph, sein Vater, Tzyvia, seine Mutter, Rivka und Simcha, seine Schwestern und sein Bruder Sruel.

Schon bei der ersten Selektion trennte die SS ihn und seinen Vater von der Mutter und den Geschwistern. Er sah sie nie wieder. Als am nächsten Tag, nach der Registrierung durch Tätowierung einer Nummer am Arm, das Wachpersonal die Häftlinge fragte, wer unter ihnen besondere Fähigkeiten hätte, riss Joseph die Hand seines Sohnes hoch und schrie laut: „Nummer A4406 ist ein Mechaniker!“ Zwei deutsche Soldaten führten Maximilian zu einer anderen Gruppe. Er sah seinen Vater nie wieder, der, während ein SS-Mann ihn zurückriss, ihm zurief: „Max, du musst überleben, für uns alle!“

Wäscherei

In der Wäscherei reinigte Greenfield die Hemden der Wachmannschaft. Als er irrtümlich den Kragen eines Hemdes abriss, prügelte ihn ein Wachsoldat halb tot, bestand jedoch darauf, dass er ihn sofort wieder annähe. Der abgerissene Kragen brachte Greenfield auf die Idee, Kleidungsstücke heimlich zu zerstören und sie unter seiner gestreiften Uniform aus der Wäscherei zu schmuggeln. Die zerrissenen Hemden und Jacken retteten ihm das Leben während der eisigen Wintermonate.

„An dem Tag, an dem ich ein Hemd eines Wachsoldaten unter der Sträflingsjacke trug, begriff ich den Wert von Kleidung“, erinnert sich Greenfield in seiner Biografie, in der er auch den mörderischen Alltag im Lager, die Zufälligkeit des Überlebens beschreibt. Bei dem Bau einer Mauer wurden links und rechts von ihm zwei gleichaltrige Burschen erschossen. Die SS hatte sie als willkürliche Ziele bei Schießübungen benutzt. Todesmarsch und Bahntransport von Auschwitz nach Buchenwald überlebte Greenfield mit erfrorenen Füßen, abgemagert zu einem Skelett. Im Frühjahr 1945 wurde Buchenwald von der US-Armee befreit, unter dem persönlichen Kommando von General Eisenhower, der damals nicht wissen konnte, dass der halb verhungerte, jüdische Junge ihm viele Jahre später einen Anzug verkaufen würde.

In Pavlovo – damals Tschechoslowakei – geboren, schickten die Eltern den Dreizehnjährigen nach Besetzung der Stadt durch die Wehrmacht zu Verwandten nach Budapest. Statt sich bei den Verwandten zu melden, versteckte er sich drei Jahre lang in einem Bordell und arbeitete während des Tages in einer Autowerkstatt. Die Frauen mochten und versorgten ihn, er fiel niemandem auf, bis das Etablissement geschlossen wurde, und er nach Pavlovo zurückkehrte, wo er mit seinen Eltern und Geschwistern verhaftet wurde.

Floor Boy

1947 emigrierte Greenfield in die USA ohne Verwandte und ohne Geld. Er begann als ‚floor boy’ in einer Schneiderei, brachte die halbfertigen Anzüge von einem Schneider zum nächsten und studierte jeden Handgriff der Spezialisten, bis ihn der Besitzer in der Produktion einsetzte. 1977, 30 Jahre später, kaufte er den Laden und nannte ihn ‚Martin Greenfield Clothiers‘, spezialisierte sich auf hoch qualitative Stoffe und Handarbeit bei der Anfertigung der Anzüge, während seine Konkurrenten die Produktion in Billig-Lohn-Länder verlegten. Heute arbeiten 50 Schneider und Schneiderinnen in der Werkstatt und immer noch wird jedes Knopfloch, jede Sakko-Tasche und jeder Kragen händisch hergestellt.

Greenfield war bald der berühmteste Schneider der USA. Auf der Liste seiner Kunden finden sich die Präsidenten Gerald Ford, Bill Clinton, Barack Obama, Donald Trump und Joseph Biden, die Künstler Frank Sinatra, Paul Newman, Denzel Washington und Michael Jackson und die Sportler Kobe Bryant und Shaquille O`Neal. Über O’Neal, dem 2,13 Meter großen Basketball-Star, sagte er: „Mit der Menge Stoff, die sein Anzug brauchte, hätte ich ein ganzes Zelt herstellen können.“

Polizeipräsident

Der perfekte Anzug von Greenfield wurde zum universellen Status-Symbol. An dem Tag, als Raymond Kelly, der Polizeipräsident von New York, zur Anprobe kam, vereinbarte er einen Termin mit Meyer Lansky, dem berüchtigten Mafia-Boss, in einem Hotel, um ihm verschieden Stoffe zu zeigen. Auf die Frage eines Journalisten, was er denn über Lansky sagen könnte, antwortete Greenfield: „Größe 40, kurz, dunkelblau, einreihiger Anzug.“ Diskretion und Qualität waren die Grundlagen seines Geschäftsmodells.

2010 bestellte der TV-Sender HBO 600 Anzüge im Stil der Zwanzigerjahre bei Greenfield für die TV-Serie ‚Boardwalk Empire‘. Auch für die Filme ‚The Great Gatsby‘ und ‚The Wolf of Wall Street‘ lieferte seine Werkstatt die Anzüge. Als Symbol seiner zeitlosen Qualität erwähnt er in der Biografie, dass sowohl der Komiker Eddie Cantor als auch der Schauspieler, der ihn 30 Jahre später in ‚Boardwalk Empire’ darstellte, seine Anzüge trugen.

Anfang März dieses Jahres starb Greenfield. Bei dem Begräbnis erinnerte sein Sohn Tod an die Worte des Großvaters – Max müsse für alle überleben – und sagte: „Genau das hat er getan.“

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