Die Angst ist wieder da: Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine fürchten die Menschen in Litauen ein ähnliches Schicksal. Dabei wollten sie nie wieder ein Spielball der Großmächte sein und sind deshalb der NATO beigetreten. Ein Rundreise durch die verwundbaren Gebiete entlang des Suwałki-Korridors
von
Eine flache, zweispurige Straße erstreckt sich schnurgerade durch die Landschaft, flankiert von endlosen Weizenfeldern, die nur gelegentlich von dichten Wäldern unterbrochen werden. Die eng aneinander gedrängten Nadelbäume fangen die Strahlen der tiefstehenden Sonne ab, während abseits des Waldes nur wenige Sträucher spärlichen Schatten spenden.
Am Ende der Landstraße 200 liegt Vištytis, ein kleiner, beschaulicher Ort mit ein paar hundert Einwohnerinnen und Einwohnern am Nordufer des Wystiter Sees. Alte Holzhäuser und ein herausgeputztes Seeufer mit Schilf, Sitzgelegenheiten und einem Holzsteg ins Wasser verleihen dem Dorf seinen Charme. Doch plötzlich taucht ein Grenzzaun mit NATO-Stacheldraht auf. Keine zehn Meter trennen das letzte Haus auf litauischem Boden von der Grenze. Von der russischen Enklave Kaliningrad dahinter ist kaum etwas zu sehen; der blickdichte Zaun lässt gerade mal ein Hausdach auf der anderen Seite erahnen. Die vielen Kameras, die von der russischen Seite nach Litauen filmen, hinterlassen ein mulmiges Gefühl, ebenso wie das Stoppschild am Ufer: „Es ist verboten, hinter die Grenzmarkierung zu schwimmen.“
Als „gefährlichsten Ort der Welt“ bezeichnete die Zeitung Politico diese Region. Vištytis liegt direkt auf dem Weg zwischen Kaliningrad und Belarus. Die sogenannte Suwałki-Lücke verbindet die baltischen Staaten mit den NATO-Partnern. Hier könnte ein offener militärischer Konflikt zwischen den NATO-Staaten und Russland ausgetragen werden. Im Kriegsfall würden russische Truppen wohl versuchen, den Korridor zwischen Belarus und Kaliningrad zu schließen. In diesem Szenario könnten russische Panzer über die Landstraße 200 in Richtung Belarus rollen.
Sicherheitsgarantie
In der Hauptstadt Vilnius ist das Verteidigungsministerium von Litauen beheimatet. Vor der Auffahrt des Ministeriums weht eine NATO-Fahne. Mitten in der historischen Altstadt voller Touristinnen und Touristen liegt das Büro von Vaidotas Urbelis. Der Direktor des Verteidigungsministeriums sieht noch keine direkte Gefahr eines russischen Angriffs auf Litauen. Er betont jedoch die mittel- und langfristige Gefahr eines militärischen Konflikts.
Sollte die Unterstützung des Westens für die Ukraine nachlassen, könnte Moskau in dem Vorhaben bestärkt werden, sein Territorium weiter auszudehnen. Darüber hinaus könnten russische Truppen, die durch einen eventuellen Waffenstillstand oder das Ende des Ukrainekriegs frei würden, für einen Angriff auf die baltischen Länder eingesetzt werden. Zudem weist er auf die wiederholten aggressiven Drohungen Russlands gegenüber dem Baltikum hin. „Wir haben in der Vergangenheit gesehen, dass Russland Schwäche ausnutzt. Daher liegt es an uns, durch ein starkes, entschlossenes Auftreten mit unseren Verbündeten dafür zu sorgen, dass Russland in dieser Region nicht angreift“, so Urbelis.
Die NATO-Mitgliedschaft ist die wichtigste Sicherheitsgarantie für Litauen. „Allein können wir einer russischen Aggression nicht standhalten“, betont Urbelis. Die reale Gefahr eines russischen Angriffs auf Litauen sei mittlerweile bei den westlichen Partnern angekommen. „Mir bereitet jedoch Sorge, dass die politischen Führungen nicht klar kommunizieren, dass ihre Bevölkerung Einschnitte für ihre Sicherheit hinnehmen muss. Russland gibt zehn Prozent des BIP für das Militär aus, während sich manche Partnerländer schwer tun, das Ziel von zwei Prozent zu erreichen“, so der Direktor des litauischen Verteidigungsministeriums.
„Vilnius loves Ukraine“
Vaidas fällt die erhöhte Präsenz von ausländischen Soldatinnen und Soldaten auf. Der 40-jährige Barkeeper arbeitet in einem Irish Pub in der Vilniusstraße – der Partymeile der litauischen Hauptstadt. Sie ist knapp fünf Minuten Gehzeit vom litauischen Verteidigungsministerium entfernt. Der Punkfan nimmt vermehrt Militärgäste aus dem Ausland in seinem „Gringo Pub“ wahr. „Das beruhigt einerseits natürlich enorm. Andererseits lässt es die Gefahr eines russischen Angriffs auch in meinem Alltag sehr präsent werden. Aber ja, durch diese Unterstützung fühle ich mich sicherer“, so Vaidas.
Die Angst vor einer russischen Aggression und die Solidarität mit der Ukraine sind besonders in der Hauptstadt Vilnius klar zu sehen. An vielen Balkonen hängen ukrainische Fahnen, vor öffentlichen Gebäuden weht neben der litauischen Flagge auch die ukrainische. Die Busse fahren durch die Stadt mit der Aufschrift „Vilnius loves Ukraine“.
Eine Sache fällt bei der Reise entlang der NATO-Ostflanke auf: Von der österreichischen Neutralität hält man hier nicht viel. Zwar wird immer wieder betont, dass jedes Land seine eigenen Entscheidungen treffen soll, doch ein Unverständnis gegenüber der westlichen Solidarität klingt immer wieder durch – und der Gedanke, dass Österreich sich zu sicher fühlt.
Auf der anderen Seite der Memel
Rund 100 km nördlich von Vištytis liegt das Dorf Smalininkai, direkt am Fluss Memel. Früher war der Ort ein wichtiger Handelsknotenpunkt zwischen Ostpreußen und der Sowjetunion, inzwischen zeugt davon noch ein zerfallener Bahnhof. Aufgrund der langen preußischen Geschichte des Ortes sprechen noch einige Menschen Deutsch.
Vom Büro des Ortsvorstehers Ramūnas Alminas lässt sich die Grenze zur russischen Enklave Kaliningrad durch die Fenster erahnen. „Natürlich haben wir Angst vor Russland. Wir haben lange unter sowjetischer Herrschaft hier gelebt und es war schrecklich. Aber es gibt einen Militärstützpunkt in der Nähe, das beruhigt zumindest ein bisschen“, sagt Ramūnas Alminas auf Deutsch. Doch nicht alles war schlecht. „Als Kinder konnten wir früher einfach auf die andere Seite der Memel schwimmen und dort am Ufer den Sommer genießen“, erzählt der Ortsvorsteher. „Inzwischen ist aber schon das Überfahren der Grenzmarkierungen in der Mitte des Flusses ein Problem. Wir haben Angst davor, wie russische Grenzsoldaten reagieren.“
Stillgelegter Grenzübergang
Die Nordgrenze Kaliningrads zu Litauen verläuft bis auf wenige Kilometer immer entlang der Memel. Lediglich Grenzmarkierungen im Wasser zeugen hier von zwei unterschiedlichen Ländern. „Inzwischen bekommen wir von den Russen wenig mit. Früher konnte man noch einfach mit dem Auto rüberfahren, um beispielsweise billiger zu tanken. Jetzt bekommt man nur die russische Luftwaffe hin und wieder mit. Außerdem verbrennen die Russen im Frühling immer ihre Wiesen, der Rauch zieht dann zu uns rüber“, berichtet Ramūnas Alminas.
Vom kleinen Hafen von Smalininkai kann man auf den Grenzzaun zwischen Kaliningrad und Litauen hinüberblicken. Direkt auf der anderen Seite der Memel verändert sich der Grenzverlauf. Eine kleine Landstraße führt die letzten Kilometer durch einen Wald, immer geradeaus, direkt auf den geschlossenen Grenzübergang zu. In Sichtweite des Grenzübergangs halten litauische Grenzbeamte vorbeifahrende Autos an. Man kann zwar bis vor die verrammelten Tore des Grenzübergangs fahren, aussteigen und fotografieren ist aber verboten. Der Zaun schlängelt sich durch Wald und Wiesen bis nach Vištytis.
Bindung zwischen Belarus und Litauen
Ortswechsel in den Südosten Litauens. An der Grenze zu Belarus liegt die Regionsgemeinde Šalčininkai, rund 45 km von der Hauptstadt Vilnius entfernt. Eine gerade Straße führt entlang von Feldern, und immer wieder tauchen riesige Werbeplakatwände auf. Auch hier ist die Nähe zu Belarus spürbar. Aufgrund der geografischen Nähe sind viele Menschen aus dem Nachbarland hierher gekommen, um zu arbeiten. Im EU-Land Litauen kann man deutlich mehr Geld verdienen als in Belarus. Früher war ein Grenzübertritt sehr einfach möglich. Teilweise sind Menschen mit dem Fahrrad oder einem Moped über die Grenze zur Arbeit nach Litauen gefahren. Auch gibt es hier einige familiäre Verbindungen zwischen den Menschen auf der litauischen und der belarussischen Seite. Gemeinhin ist die Region allerdings eher polnisch geprägt. Mit Verweis auf die Nichteinmischung in internationale Politik lehnen die Behörden in Šalčininkai ein Gespräch mit News ab.
EU-Sanktionen mit harten Folgen
Ein Busunternehmer in seinen Zwanzigern ist allerdings auskunftsfreudiger: „Wenn es zum Krieg kommt, haue ich ab.“ Der Standort seines Unternehmens ist keinen Kilometer von der dicht bewaldeten Grenze zu Belarus entfernt. Sollten Truppen hier in Litauen einfallen, käme für ihn wohl jede militärische Unterstützung zu spät. Seinen Namen will er News nicht nennen, aber er erzählt offen von den wirtschaftlichen Problemen, die ihn seit den EU-Sanktionen gegen Belarus betreffen. Vor dem russischen Angriff auf die Ukraine habe er das Familienunternehmen gut leiten können. Mit sieben Bussen hat er täglich Verbindungen zwischen Litauen und Belarus angeboten. Nun habe er von der Regierung keine Erlaubnis bekommen, diese Grenzfahrten weiter zu betreiben. Lediglich ein Busunternehmen, Ecolines, hat diese aktuell. Damit hat das Unternehmen ein De-facto-Monopol. Dies wiederum hat zu einem massiven Anstieg der Preise geführt.
Vom Gehen und Bleiben
Aufgrund der fehlenden Erlaubnis musste er alle seine Busfahrer entlassen, und sein Unternehmen erwirtschaftet kein Geld mehr. Mit der hauseigenen Werkstatt versucht er, sich irgendwie über Wasser zu halten. Von der litauischen Regierung hat er nach eigenen Angaben keine Unterstützung bekommen und fühlt sich deshalb im Stich gelassen: „Wenn sich hier nicht bald etwas ändert, muss ich weg. Die ständige Angst vor einer Eskalation und dazu noch kein Geld. Ich liebe es hier, meine Freunde und Familie sind hier, aber ohne Einkommen kann ich nicht leben.“ Danielius, ein Jugendlicher aus Šalčininkai, möchte hingegen bleiben: „Klar habe ich Angst vor einem Angriff hier, besonders weil Belarus und Russland einfach viel stärker sind als wir. Ich denke, es wird hier bald Krieg geben. Deshalb möchte ich nach der Schule ins Militär, wir brauchen mehr Soldaten.“
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 42/2024 erschienen.
Suwałki-Lücke
Die Suwałki-Lücke ist ein etwa 65 Kilometer breiter Landkorridor an der Grenze zwischen Polen und Litauen. Sie trennt die russische Exklave Kaliningrad im Westen von Belarus im Osten. Diese Region ist von strategischer Bedeutung für die NATO, da sie das einzige Gebiet darstellt, das die baltischen Staaten mit dem übrigen NATO-Gebiet verbindet. Ihren Namen verdankt die Suwałki-Lücke dem polnischen Ort Suwałki, welcher unweit der Grenze zu Litauen liegt.
NATO-Ostflanke
Seit ihrem Beitritt zum Verteidigungsbündnis bilden die ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten Estland, Lettland und Litauen sowie Polen, Slowakei, Ungarn und Rumänien die Ostflanke der NATO. Insbesondere das Baltikum gilt wegen des Flaschenhalses
(Suwałki-Lücke) als potenzielles Ziel einer russischen Aggression. Aufgrund des Angriffs auf die Ukraine und die reele Möglichkeit eines militärischen Konflikts zwischen NATO-Mitgliedern und Russland hat das Verteidigungsbündnis seine Präsenz an seiner Ostflanke erhöht. Insbesondere Deutschland spielt hier eine große Rolle. „Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine zeigt, wie wichtig militärische Schlagkraft zur Abschreckung potenzieller Gegner ist“, sagt ein Sprecher des Einsatzführungskommandos der deutschen Bundeswehr. Der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius hatte am 28. Juni 2023 die dauerhafte Stationierung einer Brigade in Litauen verkündet.
„Eine dauerhafte Stationierung eines derart großen Kampfverbands im Ausland hat es bei der Bundeswehr bisher nicht gegeben. Die Brigade soll nach den derzeitigen Planungen ab etwa 2027 voll einsatzbereit sein“, so der Sprecher weiter. Außerdem übernimmt Deutschland die Führung in der litauischen „Battlegroup“ der NATO. So nennt das Verteidigungsbündnis seine multinationalen Kampfverbände. Im Jahr 2017 begann die NATO mit der Verlegung von Soldatinnen und Soldaten nach Polen und in die baltischen Staaten. Dies erfolgte aufgrund des „zunehmenden Bedrohungspotenzials durch Russland“. Auf weitere Fragen wollte der Sprecher des Einsatzführungskommandos „aus Gründen der militärischen Sicherheit“ nicht antworten.