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Es geht nicht um Verderbnis, den Verlust von moralischen Maßstäben und auch nicht um die Lust am Töten, das der Vater offenbar auf legitime Weise praktizierte: "Er war als sehr junger Mann in den Krieg gezogen, und aus dem wenigen, das er erzählte, schloss ich, dass er ausgiebig getötet hatte." Auch der Sohn wird im Laufe des Buches töten, doch seine Tat, für die er nie zur Verantwortung gezogen wird, dürfte wohl vor jedem Gericht als Notwehrüberschreitung klassifiziert werden.
Diese Tat kommt aus heiterem Himmel, für den auf seine eigene Jugend mit Befremden zurückblickenden Ich-Erzähler Johann wie für die Leser. Denn eigentlich geht es um eine seltsame Erfahrung des Studenten, der wie sein Erfinder in den 1970ern in Marburg an der Lahn Politikwissenschaft und Germanistik studierte: Eine Studentin, die er als Tutor betreut, gesteht ihm aus heiterem Himmel und nach einem harmlosen Spaziergang am Wochenendseminar ihre Liebe und kündigt an, bei ihm einziehen zu wollen.
Köhlmeier hält sich nicht lange bei psychologischen Begründungen auf und schildert Christianes Liebe als Naturereignis - dem sich Johann, von der sich ihm als Geliebte Anbietenden Gianni geheißen, erst nach längerem Zögern hingibt. Erstens beruht die Anziehung nicht auf Gegenseitigkeit. Und zweitens ist da noch Tommi. Der ist seit der Volksschulzeit nicht von Christianes Seite gewichen, wobei die Doktorspiele von einst in eine scheinbar gefestigte Paarbeziehung übergingen, die nun eine Neuausrichtung erfährt. Tommi kann keine Trennung verkraften - und schläft lieber am Fußende des Bettes, in dem nun der neue Liebhaber Liebe machen darf.
Diese Dreieckskonstellation ergibt zwar einige skurrile Szenen, aber letztlich keine Antwort auf die Beweggründe der einzelnen Figuren. Ja, Johann fühlt sich mächtig, weil er offenbar starke Gefühle auszulösen vermag, aber auch verunsichert, weil er dem Ganzen nicht recht traut. Ganz ähnlich geht es dem Leser, der sich in einer nüchtern beschriebenen Versuchsanordnung der explosiven Gefühle zurechtzufinden sucht, ohne Gewissheit darüber zu erlangen, was bei diesem Experiment herauskommen soll. So lieblos, wie hier Liebe beschrieben wird, macht nur eines klar: Um Liebe geht es dabei nicht.
Am Ende gibt es sogar zwei Tote. Für den zweiten will Johann die Schuld auf sich nehmen. Schuld, hat man gleich im dritten Satz des Buches erfahren, besteht darin, "nicht zu wissen, was man anderen antut". Doch mit seinem Geständnis gerät er an den Falschen. An einen philosophischen Polizeibeamten nämlich. "Die Freiheit ist etwas Mächtiges. Die Lüge dagegen ist nicht mächtig. Die Lüge kommt raus", belehrt er den vermeintlichen Täter. "Ein verdorbener Mensch und dennoch unschuldig. Das gibt es. Aber es klingt interessanter, als es ist."
(Von Wolfgang Huber-Lang/APA)
(S E R V I C E - Michael Köhlmeier: "Die Verdorbenen", Hanser Verlag, 160 Seiten, 23,70 Euro, Lesung und Gespräch am 3.2., 18.30 Uhr, Thalia, Linz, Landstraße 41)