Viele führen eine toxische, also richtig unglücklich machende Partnerschaft. Und merken es nicht. Mithin ist es nur ein komisches Bauchgefühl, das schnell wieder verfliegt. Opfer toxischer Beziehungen beherrschen eins nämlich nahezu perfekt: Die Kunst der Selbsttäuschung.
Der Götterbote Hermes ist namensgebend für die Hermeneutik als Kunst der Interpretation von Texten. Sybille hatte Lothar, wie für die Verliebtheitsphase typisch, idealisiert. Alles, was er machte – und war es noch so unachtsam, ja bisweilen grausam – wurde von ihr uminterpretiert, so dass er am Ende wieder gut dastand. Er ist ihr Mister Right.
Und trotz diverser Momente der Flugunfähigkeit ihres inneren Schmetterlingsschwarms, ist sie bis heute nicht bereit, den Traum vom Liebesglück mit ihm aufzugeben. Dabei gab es von Anfang an Irritationen. Hier sind die wichtigsten Warnsignale, die auf eine toxische Beziehung hinweisen:
Selbstbezogenheit
Dass Lothar nach fünfzehn Jahren Beziehung noch immer nicht weiß, wie Sybille ihren Kaffee (schwarz, ohne Zucker) mag, und ihr hartnäckig den Zucker reicht, andererseits beim Frühstücksei stets zuerst nach dem Salzstreuer fasst, sind belanglos wirkende, minutiöse Beobachtungen. Sie drücken in Summe jedoch die Selbstbezogenheit eines Menschen aus, der möglicher Weise gar nicht liebesfähig ist.
Fehlendes Wir-Gefühl
Beim ersten gemeinsamen Hotelbesuch nimmt Lothar vom Buffet nur ein Glas Sekt zum Frühstückstisch mit. Sybille verspürt sofort einen Stich in der Magengegend; sie deutet Lothars Selbstbezogenheit aber zu Beginn der Liebe und später als Folge seiner Zerstreutheit.
Vorbeireden
Wann immer Menschen über die Zukunft oder die Beziehung reden möchten, werden sie übertönt oder gemaßregelt. „Du bist schon wieder fordernd.“ „Musst du schon wieder insistieren.“ „Kannst du nicht einfach Ruhe geben.“ Mit toxischen Sätzen wie diesen wird die Person, die in Kontakt treten und in die Tiefe gehen will, mundtot und lächerlich gemacht.
Umdeutungen am laufenden Band
Pöbeln Menschen ihre Partnerinnen und Partner grundlos an, wird das von den Betroffenen schnell in Schuldbewusstsein umgekehrt. Daran knüpft sich die Neigung, durch Unterwerfung und Selbstaufgabe Harmonie herzustellen.
Selbstzweifel und Minderwertigkeitsgefühle
In toxischen Beziehungen gefangene Personen können deshalb „nicht einfach gehen“, weil die Hoffnung bekanntlich zuletzt stirbt. Eher würde Sybille den Kontakt zu ihren schon von ihrem Beziehungsmuster genervten Freundinnen aufgeben, als an ihrem irgendwann dauerhaften Glück mit Lothar zu zweifeln. Für diese ewig währende Hoffnung bezahlt sie mit einem drastisch abfallenden Selbstwertgefühl und isoliert sich mehr und mehr von allen, die sie von ihrer Selbsttäuschung befreien wollen. Sie verhält sich so, als hätte sie nichts anderes verdient.
Was tun, um hier herauszukommen?
Es ist fürwahr nicht einfach, eine verschleierte toxische Beziehung zu erkennen. Schritt eins Ihrer Befreiung aus der Selbstblendung ist, mit dem Uminterpretieren aufzuhören und das Verhalten des Lieblingsmenschen als das zu sehen, was es ist, ohne Weichzeichner und rosarote Brille.
Der nächste Schritt ist, an der Auflösung von Idealbildern zu arbeiten. Und im dritten Schritt damit aufzuhören, es als persönliches Scheitern zu erleben, wenn der Partner anders ist als erhofft. Dies gelingt am ehesten in einer Psychotherapie. Nach einer kopernikanischen Wende in der Liebe werden Sie eins ganz sicher haben: Mehr Selbstachtung. Und vielleicht zum ersten Mal das Gefühl, so richtig selbstbewusst und liebenswert zu sein.