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Liberales jüdisches Leben in Wien

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Ein Gespräch mit Rabbiner Tobias Divack Moss und Eric Frey, dem Vorsitzenden der jüdischen Reformgemeinde in Wien. Orthodoxe erkennen die Gemeinde gar nicht an, die Israelitische Kultusgemeinde (IKG) nur als Verein. Ihr Grundsatz: Offenheit gegenüber gesellschaftlichen Veränderungen

Die Gründungen liberaler jüdischer Gemeinden begannen im 19. Jahrhundert in Deutschland. Etwa zwei Millionen jüdische Frauen und Männer bekennen sich heute zum Reformjudentum. Das wichtigste Zentrum der Bewegung liegt in Nordamerika. Weltweit arbeiten bereits etwa 900 Rabbinerinnen in Reform-Gemeinden. Die Liberale Gemeinde in Wien wurde 1990 gegründet.

Im liberalen Judentum gilt jeder Mensch als autonom, selbstständig und eigenverantwortlich. Traditionelle Riten und religiöse Gebote der jüdischen Gesetze stehen nicht immer über der Persönlichkeit, den persönlichen Umständen und dem freien Willen des Menschen als vernünftiges Wesen. Progressives Judentum zeichnet sich durch eine Offenheit gegenüber Veränderungen und modernen Werten aus.

Eine enge Seitengasse im zweiten Bezirk in Wien nicht weit vom Donaukanal, die Straßenecken und Gebäude werden mit Videokameras kontrolliert, eine stahlumrandete Eingangstür. Ein junger Mann, dunkle Locken und eine Kippa auf dem Kopf, öffnet die Tür, stellt sich als Rabbiner der Gemeinde vor. Er führt durch die Räume der Religionsgemeinschaft. Ein Gebetsraum mit mehreren Reihen von Stühlen. Vorne in der Mitte die Bima, der Tisch, auf dem zu Schabbat und den wichtigen Feiertagen die Thorarolle ausgerollt wird.

Ein zweites Zimmer mit Büchern und einem großen Tisch, vielleicht noch ein dritter oder vierter Raum, das war’s dann schon. Die ganze Synagoge ist nicht größer als eine Wohnung, schlicht und einfach im Vergleich zum überladenen Tempel der traditionellen Gemeinde in der Seitenstettengasse in Wien.

Rabbiner Tobias Divack Moss und der Präsident der Gemeinde, der „Standard“-Journalist Eric Frey, im Interview mit News.

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Wir glauben, ein jüdisches Leben sollte ohne das schlechte Gewissen möglich sein, ständig irgend­ eine antiquierte Regel zu verletzten

Tobias Divack MossRabbiner

Jüdisches Leben verteilt sich auf konservative, orthodoxe und liberale oder progressive Gemeinden. Was bedeutet liberales – oder progres­sives – Judentum?

Rabbiner Moss: Je nach Land, wo sie gegründet wurden, nennen sie sich liberale, progressive Gemeinden, Or Chadasch, oder in den USA Reform-Judaism. Es sind moderne jüdische Gemeinschaften, die davon ausgehen, dass sich Religion im Laufe der Zeit verändert und damit auch das Religionsverständnis, Rituale und Zeremonien. Liberales Judentum passt sich an diese Veränderungen an, entwickelt sich mit der Zeit und arbeitet nicht gegen sie.

Was sind die wichtigsten Unterschie­de zu orthodoxen und konservativen Gemeinden?

Rabbiner Moss: Das betrifft rituelle Handlungen und Gesetze, die aus vergangenen Zeiten übernommen wurden. Obwohl sich Rituale immer wieder ver­ändert hatten, versuchen konservative Gemeinden, sie so weit wie möglich zu bewahren und zu wiederholen. Anpas­sung an ein verändertes Lebensgefühl, einen veränderten Alltag wird blockiert, die Bewahrung der Tradition ist wichti­ger als die Veränderung. Wir glauben, ein jüdisches Leben sollte ohne das schlechte Gewissen möglich sein, ständig irgend­ eine antiquierte Regel zu verletzten.

Wie überträgt sich die Modernisie­rung auf die Rechte der Frauen?

Eric Frey: Hier existiert ein entschei­dender Unterschied. In traditionellen Gemeinden ist für Schabbat, religiöse Feste und Gottesdienste genau definiert, was Männer und was Frauen dürfen. Wir sind die einzige Synagoge in Wien, in der Frauen und Männer nicht ge­trennt voneinander, sondern mitein­ander sitzen. Zum Unterschied zum Stadttempel in der Seitenstettengasse, wo Frauen von der zweiten und dritten Ebene nur zusehen können und am Gottesdienst nicht teilnehmen dürfen. Der wird von Männern kontrolliert. Frauen stehen bei uns alle religiösen Funktionen offen, als Rabbiner, als Kantor, als Präsidentin einer Gemeinde. Frauen und Männer organisieren den Gottesdienst gemeinsam.

Gibt es Unterschiede bei der Defini­tion, wer Jude, wer Jüdin ist?

Rabbiner Moss: Judentum ist keine messianische Religion, im Gegenteil, wir warnen Frauen und Männer, die über­treten wollen, dass es Nachteile geben könnte und eine Verantwortung damit verbunden ist. Auch im liberalen Juden­tum wird die Zugehörigkeit über die jüdische Mutter weitergegeben. Es gibt jedoch Gemeinden in den USA, die eine Aufnahme garantieren mit einem jüdi­schen Vater, wenn das Kind in einer jüdischen Tradition aufwächst. Das Studium für den Übertritt zum Juden­tum dauert etwa zwei Jahre, wie auch bei den konservativen oder orthodoxen Gemeinden. Ein jüdisches Gericht mit drei Rabbinern entscheidet über den Übertritt.

Wir sind die einzige Synagoge in Wien, in der Frauen und Männer nicht ge­trennt voneinander, sondern mitein­ander sitzen

Eric FreyJournalist und Präsident der jüdischen liberalen Gemeinde in Wien

In konservativen Gemeinden wird beim Gottesdienst Hebräisch und Aramäisch gesprochen, wie ist das in liberalen Gemeinden?

Rabbiner Moss: Auch hier passen wir uns den Veränderungen an, viele Mitglieder können nicht Hebräisch. Wir lesen man­che Texte auf Englisch, vor allem wäh­rend der Sommermonate, wenn uns viele Touristen besuchen, und manche Stellen auch auf Deutsch. Wir haben keinen eige­nen Kantor, keinen Chor der Männer wie in konservativen Synagogen. Meine Frau singt, der Chor sind die Besucher des Gottesdienstes. Es gibt ein Klavier, auch das ist undenkbar in konservativen und orthodoxen Gotteshäusern.

Bietet die liberale Gemeinde in Wien Hochzeiten, Bar Mizwa und Begräb­nisse?

Rabbiner Moss: Von Geburt bis zum Tod bietet unsere Gemeinde eine Begleitung. Dazu ein kulturelles Programm mit religiöser Fortbildung, Konzerten, Vor­trägen und Lesungen.

Das konservative Judentum hat strenge Regeln, die den Alltag bestimmten, gibt es da Unterschiede zum liberalen Judentum?

Rabbiner Moss: Die Gesetze der jüdi­schen Religion gelten für alle. Doch das liberale Judentum stellt nicht die Re­geln, sondern den Menschen in den Vordergrund, seine Bedürfnisse und die Notwendigkeiten, sich an ein modernes Leben anzupassen. Wohnt zum Beispiel jemand weit weg von der Synagoge und möchte am Gottesdienst teilnehmen, sollte er die Synagoge erreichen können und nicht zu Hause bleiben, weil er kein Auto benutzen darf.

Wie streng hält es die liberale Gemeinde mit den Speisevor­schriften?

Rabbiner Moss: Das Essen hier ist streng vegetarisch, es darf bei der Herstellung nicht mit Fleisch in Berührung kommen. Doch auch in diesem Bereich ist es die Verantwortung, die zählt, und nicht die Angst, dass eine Bestrafung droht.

Das liberale Judentum stellt nicht die Regeln, sondern den Menschen in den Vordergrund

Tobias Divack MossRabbiner

Ist die liberale Gemeinde eine gleichberechtigte Organisation in der offiziellen Israelitischen Kultusge­meinde (IKG), dem Dachverband der jüdischen Gemeinden?

Eric Frey: Nein, sind wir nicht. Die Or­thodoxen erkennen uns nicht als jüdi­sche Gemeinde an. Das ist kein Problem in den USA, dort gibt es keinen Dach­verband, jede Gemeinde ist unabhängig, jedoch ein großes Problem in Israel und manchen Ländern Europas, wo orthodo­xe Rabbiner entscheiden, wer Jude ist.

Betrifft das auch den jüdischen Friedhof, das vierte Tor am Zentralfriedhof?

Eric Frey: Orthodoxe Rabbiner anerken­nen unseren Übertritt nicht. Mitglieder unserer Gemeinde, die nachweislich nach der Halacha keine Juden sind und in der liberalen Gemeinde übergetreten sind, dürfen in Österreich nicht auf jüdi­schen Friedhöfen begraben werden. Wir haben einen eigenen Bereich am Zentral­friedhof, am ersten Tor, für unsere Mit­glieder. Wir akzeptieren auch gemeinsa­me Gräber mit nichtjüdischen Partnern und Partnerinnen. Auf traditionellen jüdischen Friedhöfen ist das verboten.

Der Präsident des offiziellen Dach- verbands, der IKG, vertritt damit nicht die liberale Gemeinde?

Eric Frey: Es gibt im Judentum nicht diese Hierarchie, wir haben keinen Papst, jede Gemeinde ist unabhängig, doch die gesetzliche Regelung in Öster­reich, das Israelitengesetz, schuf einen Dachverband mit einem Präsidenten. Das widerspricht eigentlich der grund­legenden Idee des Judentums. Da die orthodoxen und konservativen Gruppen im Dachverband die Mehrheit haben, verweigern sie uns die gleichberech­tigte Mitgliedschaft. Unsere Mitglieder können auch nicht an den Wahlen der IKG teilnehmen, weder aktiv noch passiv.

Gibt es eine Anerkennung durch die IKG?

Eric Frey: Wir werden als Verein aner­kannt, nicht als Religionsgemeinschaft wie andere Gruppen, die in der offiziel­len Gemeinde vertreten sind. Für die orthodoxen Rabbiner sind wir auch keine Synagoge. Jeden Sommer fragen jedoch Dutzende Touristen bei der IKG, wo denn die liberale Gemeinde sei, wenn sie Freitag oder Samstag am Gottesdienst teilnehmen wollen. Die IKG war gezwungen, uns einen Status zu geben, ohne uns offiziell anzuerkennen.

Ist es eine Form der Diskriminierung?

Eric Frey: Ja und nein, niemand mischt sich in unser Gemeindeleben ein. Frau­en, Männer und Kinder können in Wien ein jüdisches Leben nach den Regeln des liberalen Judentums leben. Wir haben alle notwendigen Einrichtungen dafür. Wir können am jüdischen Straßenfest teilnehmen und bekommen finanzielle Unterstützung von der IKG. Doch wir dürfen nicht wählen, dürfen nicht am jüdischen Friedhof begraben werden, unsere Übertritte werden nicht aner­kannt und Kinder liberaler Juden dürfen nicht die jüdischen Schulen besuchen.

Die Or­thodoxen erkennen uns nicht als jüdi­sche Gemeinde an. Das ist kein Problem in den USA, dort gibt es keinen Dach­verband, jede Gemeinde ist unabhängig

Eric FreyJournalist und Präsident der jüdischen liberalen Gemeinde in Wien

Wie groß ist die Gemeinde hier in Wien?

Eric Frey: Heute haben wir ungefähr 200 Mitglieder, einen Vorstand, der ge­wählt wird, und bieten regelmäßigen Gottesdienst, jede Woche und zu den Feiertagen. Vor einer Aufnahme beur­teilt unser Rabbiner die jüdische Seite neuer Mitglieder und der Vorstand ent­scheidet über die Aufnahme. Wir haben auch Mitglieder, die keine Juden sind, sondern einfach Interesse am Judentum haben. Die sind jedoch nicht wahlbe­rechtigt. Wir sind offen gegenüber Besu­chern, die sich für das Judentum inter­essieren, sie können am Gottesdienst teilnehmen. Wir erklären, wie er ab­läuft, und sprechen nachher mit den Gästen, wenn sie noch Fragen haben.

Gibt es internationale Kontakte zu anderen Gemeinden?

Rabbiner Moss: Ja, natürlich, wir sind Mitglied in der European Union for Progressive Judaism und damit auto­matisch auch Mitglied im Weltverband. Präsident ist derzeit ein Rabbiner aus Argentinien. Liberales Judentum ist heute in fast allen Staaten vertreten, wo es jüdische Gemeinden gibt. Es existie­ren progressive Rabbiner­-Schulen in Deutschland, Großbritannien, Holland, USA und anderen Ländern.

Gibt es Kontakte zu anderen jüdischen Gemeinden in Österreich?

Eric Frey: Unterschiedlich. Für die Or­thodoxen existieren wir nicht. Mit der offiziellen Gemeinde, der IKG, gibt es ein gutes Arbeitsverhältnis. Man akzeptiert uns dort als einen wichtigen Bestandteil des jüdischen Lebens in Österreich.

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