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Leitartikel: Die zwei Gesichter Wiens – zwischen Weltstadtglanz und nüchterner Realität

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Wien feiert sich gerne selbst – und das nicht zu Unrecht. Die Stadt ist schön, lebendig, begehrt. Immer wieder wird Wien zur lebenswertesten Stadt der Welt gekürt. Doch hinter den Zuschreibungen wachsen die Probleme schneller als die Lösungen.

Das Glitzern in den Augen setzt nach ein paar Sekunden ein. Ein verklärter Blick. Ein leises, erinnerndes Seufzen. Alles Reaktionen auf eine der gängigsten Fragen auf Reisen: „Wo kommst du her?“ Lautet die Antwort „Österreich“, folgt erst ein kurzer Moment des Nachdenkens – und dann die Nachfrage: „Austria? Australia?“ Irgendwo bei „Germany“? Doch sobald die Antwort Wien fällt, ist das Eis gebrochen. Die Spanierin erzählt von ihrer Hochzeitsreise. Die Amerikanerin gerät ins Schwärmen – von Strauss und dem „entzückenden Boys’ Choir“. Und die Deutschen? Beginnen eine Lobeshymne auf das Wiener Schnitzel.

Das ist die eine gern zum Besten gegebene Erzählung von Wien. Eine Erzählung, die auch vom offiziellen Wien wohlwollend aufgenommen und bereitwillig ergänzt wird – etwa durch das viel zitierte Mercer-Ranking: die alljährliche Kür der „lebenswertesten Stadt der Welt“. Elf Jahre lang lag Wien auf Platz eins – aktuell muss man sich hinter Zürich mit Platz zwei begnügen. Dass hierfür ausschließlich Expats befragt werden? Also Menschen, die sich internationale Schulen, Wohnungen in Bestlage und private Spitzenmedizin leisten können? Geschenkt.

Es ist eben diese eine Erzählung. Sie zieht. Sie verkauft. Und so ziert Wien ausgerechnet jetzt, wo aktuell der Titel futsch ist, das Cover des deutschen Stern: „Wien – die lebenswerteste Stadt der Welt“. Zehn Seiten Hommage an Kaffeehäuser, Würstelstände, Walzer und Riesenrad. Und natürlich der Gemeindebau. Der mit dem Pool am Dach. Als gäbe es nur solche – und als hätten sie alle ausnahmslos lauschige Innenhöfe. Nicht falsch verstehen. Wien ist eine tolle Stadt. Eine saubere Stadt. Eine gut organisierte Stadt. Die Öffis fahren im Minutentakt. Für 365 Euro im Jahr. Wer da meckert, war lange nicht mehr in -einer anderen europäischen Großstadt.

Nicht alle wohnen in Wien schön. Ziemlich viele sogar ziemlich teuer

Das andere Wien

Und doch gibt es eine zweite Erzählung. Eine, die nicht auf Plakaten steht. Eine, die auch im Wahlkampf nur schemenhaft durchschimmerte. Zu schrill von den einen. Zu verhalten von den anderen. Dabei wären offene Worte nötig gewesen. Und sei es nur der guten Ordnung halber. Wien rechnet heuer mit einem Defizit von 3,8 Milliarden Euro. Mehr als doppelt so viel wie im Vorjahr. Die Arbeitslosenquote liegt bei zwölf Prozent. Die Jugendarbeitslosigkeit steigt. In den Volksschulen kann jedes zweite Kind der ersten Klasse nicht ausreichend Deutsch, um dem Unterricht folgen zu können.

Das viel beschworene Konzept der „sozialen Durchmischung“? Funktioniert in einzelnen Vorzeige-Gemeindebauten. Aber eben nur dort. In vielen Bezirken scheitert es. Nicht an der Idee, sondern an der Realität. Wien wächst. Das ist prinzipiell eine gute Nachricht. Nur kann die Stadt mit dem Wachstum nicht mithalten. Siehe Schulen. Siehe Wohnraum. Zu der Erzählung der „lebenswertesten Stadt“ der Welt gehört auch das dazu. Nicht alle wohnen schön. Ziemlich viele sogar ziemlich teuer.

Hässliche Ecken und blinde Flecken

Und auch Wien hat hässliche Ecken. Logisch. Großstadt eben. Wien und Drogen? Gab’s mal. Am Karlsplatz. Sagt man. Heute ist er poliert. Glänzt in feinster Innenstadtlage. Und die Szene? Nicht weg. Nur verschoben. In Bezirke, die in der offiziellen Erzählung nicht vorkommen. Und dann ist da noch das bunte, vielfältige Wien. Der Stolz der Stadt. „Unser Bürgermeister“ stand auf den Wahlplakaten der SPÖ. „Unser?“ Mehr als ein Drittel der Wiener:innen dürfen ihn nicht wählen, weil sie keinen österreichischen Pass haben. Tendenz steigend. Nebensächlichkeiten? Befindlichkeiten? Ja. Das ist aber auch Politik. Gemacht im Namen aller. Aber nicht für alle.

Wer das nicht sehen will, macht es sich bequem. Der Vergleich zwischen der zweitgrößten deutschsprachigen Stadt, Wien, und der viertgrößten, München (Arbeitslosenquote: 5,1 Prozent), bringt Erstaunliches zutage. Man muss nur hinschauen – und darf sich erlauben, zu staunen. Denn Wien hat nicht nur soziale Baustellen, sondern auch wirtschaftliche Herausforderungen. Die Ludwig-Maximilians-Universität in München (1,6 Millionen Einwohner) rangiert im Shanghai-Ranking der besten Universitäten weltweit auf Platz 43.

Die Uni Wien in der Zwei-Millionen-Metropole? Irgendwo zwischen 101 und 150. München ist Hotspot für Techgiganten. Apple baut seinen Standort zum weltweiten Forschungszentrum aus – und ist in bester Gesellschaft. Amazon und Microsoft haben ebenfalls ihre Zentralen hier. Drei der wertvollsten Unternehmen der Welt. Auch Google betreibt seinen größten deutschen Standort in München. Neuester Zugang: OpenAI.

Wir und die anderen

Und Wien? 218 internationale Unternehmen siedelten sich im Vorjahr an, jubelt die Stadtverwaltung. 530 Millionen Euro Investitionen. 915 neue Jobs. Zahlen, die gut klingen – im Vergleich aber klein wirken. Während Wien sich zum „Start-up-Hub“ erklärt, hat München längst geliefert. Über 4.500 Start-ups haben dort ihren Sitz. Wien? Rund 2.500.

Warum redet man nicht offen darüber? Weil der Titel „lebenswerteste Stadt der Welt“ genügt, um sich zufrieden zurückzulehnen? Wien feiert sich gern – und oft zu Recht – selbst. Und verliert dabei genau dort, wo es Zukunft dringend braucht.

Was meinen Sie? Schreiben Sie mir: gulnerits.kathrin@news.at

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 18/2025 erschienen.

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