Demokratie lebt von Kompromissen. Doch wenn Prinzipien geopfert werden, um Macht zu sichern, gerät das Fundament ins Wanken. Genau das passiert gerade: Eine Partei, die einst warnte, verhilft jenen zur Macht, die sie als Gefahr gebrandmarkt hat. Was bleibt, sind Fragen. Was fehlt, ist klare Haltung
Der Applaus kam prompt – und von ganz rechts: „Was für eine Wendung, was für eine großartige Entwicklung!“ Und: „Österreich ist uns in der Entwicklung voraus …“ Der Absender: Björn Höcke, AfD-Parteichef in Thüringen, der offiziell als Faschist bezeichnet werden darf. Ein Politiker, verurteilt wegen NS-Parolen. Einer, der die Aufarbeitung der NS-Diktatur als „dämliche Bewältigungspolitik“ verspottet und eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ fordert.
Genau dieser Björn Höcke, erst kürzlich als Ministerpräsident verhindert, gratuliert nun dem aktuell erfolgreichsten Politiker Österreichs, Herbert Kickl. Bald wohl Kanzler. In einem Land im Herzen Europas, in dem Gedankenspiele plötzlich zur Realität werden. Warum? Weil die anderen, die demokratisch konstruktiven Kräfte, die es in der Hand gehabt hätten, sich zwischen Kompromiss und Staatsverantwortung verloren haben. Weil Versprechen plötzlich keinen Wert mehr haben. Und weil die ÖVP lieber als Juniorpartner agiert, um Macht und Einfluss zu sichern – selbst an der Seite eines Mannes, den sie vor Kurzem noch als „Gefahr für die Demokratie“ und als „große Gefahr für die Sicherheit Österreichs“ bezeichnet hat. Jetzt heißt es: „Zum Wohl des Landes.“ Aber Meinungen darf man ja ändern, oder?
Österreichische Verhältnisse
Die ÖVP opfert ihren eigenen Kanzler – nur damit Kickl Kanzler werden kann. Dass laut Nachwahlbefragung drei Viertel der ÖVP-Wähler Kickl ausdrücklich nicht als Kanzler wollten? Egal. Dass „Herbert Kickl ad personam“ ausgeschlossen wurde – als Kanzler und Regierungsmitglied, wie es noch im September hieß? Geschwätz von gestern. Es gab viele Warnungen. Jetzt entpuppen sie sich als leere Worte.
Ein historischer Schritt. Eine Zäsur in der Innenpolitik. Eine Zeitenwende. „Österreich ist ein Beispiel, wie es nicht laufen darf. Wenn die Parteien der Mitte nicht bündnisfähig sind und Kompromisse als Teufelszeug abtun, hilft das den Radikalen“, warnt der Vizekanzler und Grünen-Spitzenkandidat Robert Habeck mit Blick auf Österreich und auf die Neuwahlen in Deutschland im Februar 2025. Eine Lektion aus Österreich – mit ungewissem Ausgang.
Und jetzt? Wie damit umgehen? Wie einordnen – als Einzelner, als Gesellschaft? Ich muss gestehen, ich tue mir schwer damit, diese neue Realität einzuordnen, ja anzuerkennen. Eine Frage treibt mich dabei um: Wie konnte das geschehen? Dieser Tage schrieb mir ein Leser: „Ich kann Ihnen versichern, dass ich und die große Mehrheit der FPÖ-/AfD-Wähler:innen weder menschenverachtend, rechtsextrem noch antisemitisch, rassistisch und schon gar keine Nazis sind.“ Ja, eh. Und wie weiter? Was passiert, wenn jene, die diese Partei gewählt und den Boden bereitet haben, den Blick abwenden – weil sie es am Ende nicht so genau wissen wollen oder weil sie das, was möglicherweise kommt, so auch nicht wollten? Oder weil sie es genau so wollten?
Wer hält dagegen?
Wer hält überhaupt noch dagegen? Wer von den „Parteien der Mitte“, die in entscheidenden Momenten versagt haben? Und die Medien? Sie stecken ohnehin in einer existenziellen Krise. Werden sie dagegen halten? Pragmatismus üben? Oder sich anpassen – aus Angst oder vorauseilendem Gehorsam? Vielleicht auch aus Rücksicht auf politische und persönliche Netzwerke? Und was, wenn die Unabhängigkeit dieser Medien eingeschränkt wird? Wird es den Menschen egal sein, weil das Vertrauen in Journalismus ohnehin erodiert ist?
Damals, als die FPÖ erstmals unter einem ÖVP-Kanzler Schüssel an die Macht kam, gingen Tausende im Land auf die Straße. Die Proteste waren laut – und wirkungsvoll. Heute? Schulterzucken. Desinteresse. Wann ist uns der moralische Kompass aus der Hand geglitten? Wann wurde die Grenze des Sagbaren endgültig verschoben?
Befindlichkeiten sind das eine und nicht vom Tisch zu wischen. Aber es geht um mehr. Was bedeutet es, wenn der Regierungsbildungsauftrag an den FPÖ-Chef erteilt wird und in einem Kabinett mit „Volkskanzler“ Kickl endet? Ebenjenem Kickl, der den Bundespräsidenten, der ihn angeloben wird, als „senil“ und „Mumie in der Hofburg“ beleidigt hat. Ein Mann und eine Partei, die den politischen Diskurs mit destruktiven Parolen vergiftet haben.
Die einen warnen vor (medialer) „hysterischer Aufregung“ und fordern Geduld: Man solle erst bewerten, was wirklich umgesetzt wird. Andere raten, „einen Gang runterzuschalten“, weil „alles nicht so schlimm“ sei. Schließlich haben die vergangenen Tage gezeigt, wie Demokratie auch funktioniert: Wenn eine Regierungskoalition scheitert, wird eine neue ausprobiert. So weit, so legitim. Aber was, wenn diese Experimente auf Kosten der Grundpfeiler unserer Demokratie gehen? Was, wenn dabei der Rechtsstaat, die Menschen- und Minderheitenrechte, die Sicherheitspolitik, die Haltung zur EU und freie, unabhängige Medien zur Verhandlungsmasse werden?
Es entgleitet uns etwas – schleichend, aber spürbar.