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Leitartikel: Der Ostdeutsche - Ein Erklärungsversuch

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Kathrin Gulnerits

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Undankbar. Sonderbar. Erratisch – so ist er, der Ostdeutsche, der gerade mit seinem Wahlergebnis und dem damit einhergehenden Wahlerfolg der rechtsextremen AfD für eine historische Zäsur sorgt. Ein Erklärungsversuch

Die Abrechnung bei den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen war erwartet worden. Es wurde eine Abrechnung mit der Politik. Dem Land. Den Lebensumständen. Rechtsruck. Linksruck. Klatsche für die in Berlin regierende Ampelkoalition. Das muss Folgen haben. Das wird Folgen haben. Der Wahlerfolg der AfD – 32,8 Prozent in Thüringen, 30,6 Prozent in Sachsen – ist ein weiterer, ein brandgefährlicher Schritt in eine besorgniserregende Richtung. Eine historische Zäsur und mehr als ein Stresstest für die Demokratie.

Haben 2014 noch 37 Prozent ihrer Wähler die AfD aus Überzeugung gewählt, sind es heute 52 Prozent. Und: In Thüringen erreicht die AfD mit 36 Prozent die meisten Stimmen bei den 18- bis 24-Jährigen. Ein Viertel der Wähler in Thüringen gilt als rechtsextrem; ein weiteres Viertel als ausgeprägt rechts. So weit die nüchterne Einordung.

Die Undankbaren

Schuld an dem politischen Beben sind DIE Ostdeutschen. Die aus den „verschlafenen“ Städten und Dörfern. Die, die Demokratie nicht und nie gelernt haben. Die Undankbaren. Sehen die nicht, was da in ihrem Land passiert ist, fragen sich viele zu recht und meinen mehrheitlich die seit der Wiedervereinigung im Eiltempo hübsch restaurierten Städte, die Autobahnen, den Wohlstand. Und überhaupt: die ganzen Transferleistungen. Vom Westen für den Osten. Aber jetzt, 35 Jahre nach dem Mauerfall und 34 Jahre nach der Wiedervereinigung, fällt diesen Ostdeutschen – die rechtsextreme AfD, das linkspopulistische Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) und die Linke kommen zusammen auf knapp 62 Prozent – nichts anderes ein, als so zu wählen, wie sie gewählt haben?

Die Beurteilung fällt gnadenlos aus. Und sie weist blinde Flecken auf. „Die Ostdeutschen koppeln sich in ihrem Wahlverhalten immer stärker von ihren westdeutschen Landsleuten ab“, heißt es in einem Kommentar in „Die Presse“. „Sie kultivieren Eigen- und Sonderheiten, die 35 Jahre nach dem Fall der Mauer erratisch anmuten.“ Sonderbar und erratisch also. Abgekoppelt. Eine Bürde. Jedenfalls für das politische System. Ich bin eine von diesen sonderbaren Ostdeutschen. Sächsin noch dazu, wenngleich ich mangels Wahlrecht nicht gewählt habe. Ich möchte an dieser Stelle eine Einordnung versuchen, warum der Ostdeutsche so ist, wie er ist. Warum es Gründe dafür gibt, die man nicht verstehen muss. Aber zur Kenntnis nehmen kann. Gut möglich, dass es als Rechtfertigung gesehen wird. Gut möglich, dass ich trotzdem am Ende als typisch ostdeutsch larmoyant abgestempelt werde.

Viele Ostdeutsche haben sich nicht plötzlich abgekoppelt. Sie haben nie dazugehört

Wertlose Biografien

Doch mit welcher Überheblichkeit man über Ostdeutschland reden kann, ist beeindruckend. So viel Ahnungslosigkeit. So viel Nichtwissen. So viel Nichtwissenwollen. Vergesslichkeit. Etwa, dass 75 Prozent der berufstätigen Ostdeutschen zwischen 1990 und 1994 ihren Job wechseln mussten. In der Regel war es ein Wechsel in schlechtere Jobs. Für meine Eltern etwa war in dem Alter, in dem ich heute bin, die Berufslaufbahn beendet. Vorruhestand. Lebensleistung. Lebenserfahrung. Egal. Ihre Biografie war nichts mehr wert. Für mich 17-Jährige bedeutete der Mauerfall: neue Bücher, neue Hymne, neue Währung, volle Regale, Meinungsfreiheit, Reisefreiheit, Selbstverantwortung. Eine Vervielfachung meiner Lebensmöglichkeiten. Wohlgemerkt nicht als langer Annährungsprozess. Sondern als brutale Transformation binnen eines knappen Jahres. Immer begleitet von Ängsten, Frust und Sorgen. Dazu Kränkungen, fehlende Anerkennung und Wertschätzung. Bis heute. Ein Nährboden. Das Wahlergebnis ist auch, aber nicht nur, eine späte Abrechnung mit dieser Transformation und einer fehlenden Aufarbeitung. Das rächt sich jetzt. Gab es Anfang der 90er-Jahre die These, dass es drei bis fünf Jahre dauern würde, bis die Unterschiede zwischen Ost und West verschwunden sind, so zeigt sich heute: Viele haben sich nicht „plötzlich abgekoppelt“. Sie haben nie dazugehört.

Nach wie vor werden im Osten um 20 Prozent niedrigere Löhne als im Westen gezahlt. Vererbtes Vermögen? Gibt es so gut wie nicht. 90 Prozent des Eigentums in meiner Heimatstadt Leipzig gehört Westdeutschen. Eine Parteienbindung wie im Westen gibt es nicht. Ein unterschiedlich ausgeprägtes Naheverhältnis zu Russland hingegen schon – und sei es auch nur aus Dankbarkeit, dass wir in den russischen Läden hin und wieder ein paar Bananen kaufen durften. Das prägt. Auch ein Kinderleben. In einer Diktatur gelebt zu haben, vergisst man nicht. Das Aufwachen in einer Demokratie verlangt mehr als nur einmal schütteln und ein „Stellt euch nicht so an!“ Während Ostdeutsche in der Politik gut repräsentiert sind, fällt deren Teilhabe in Wirtschaft und Justiz mit bis zu vier Prozent bescheiden aus. In Medien und Kultur sind es acht Prozent.

Fühlen sich Menschen nicht repräsentiert und wahrgenommen, kann das zu Distanz führen – und zu einem irritierenden Wahlergebnis von Menschen, die sich als „Menschen zweiter Klasse“ fühlen. In Ostdeutschland sind das 60 Prozent.

Was meinen Sie? Schreiben Sie mir bitte: gulnerits.kathrin@news.at

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