Mit Schuld und Reue tut man sich hierzulande schwer. Wer verurteilt wird, spricht lieber von Fehlurteil als von Verantwortung. Wer gut verdient, fürchtet nicht Kritik, sondern Sichtbarkeit. Zwei aktuelle Fälle zeigen, wie der Blickwinkel bestimmt, was empört. Und was nicht einmal mehr auffällt.
Mit dem Blickwinkel ist das so eine Sache. Er prägt den Standpunkt – und lenkt damit die Debatte. Oft genug vernebelt er aber den Blick aufs Wesentliche. Auf den Kern. Auf das, worum es eigentlich geht. Weil man das nicht sehen will. Weil nicht sein darf, was nicht sein soll. Weil die eigene Bubble nur Bestätigung kennt. Weil es immer schon so war. Auch wenn sich die Zeiten ändern. In Österreich vielleicht langsamer, zäher und behäbiger als anderswo. Aber sie ändern sich. Der Blick von außen – oder aus einer anderen Position heraus – kann das verändern. Er öffnet. Macht Widersprüche sichtbar. Und das Tun der Akteure dahinter. Ihr Wirken. Ihre Sicht auf sich – und den Rest.
In den letzten Wochen gab es viele Gelegenheiten, genauer hinzuschauen. Und nicht mehr wegzusehen. Sich zu wundern. Sich zu fragen: Warum blicken wir so – und nicht anders – auf bestimmte Ereignisse? Beispiel eins: der Prozess gegen Karl-Heinz Grasser. Dauer: 16 Jahre. Das Urteil: schuldig. Die Reaktion des Verurteilten? Unrechtsurteil. Fehlurteil. Verurteilungsdruck. Politprozess. Diskutiert wurde viel. Über das Verfahren. Die Dauer. Die Komplexität. Die Justiz. Kaum aber über das Wesentliche: Grasser hat sich bereichert. Unverfroren. Ein Ex-Minister. Ein Mann, der Macht hatte – und sie nutzte. Für sich. Und der jetzt dafür verurteilt wurde. In einem Rechtsstaat.
Lange war er der Liebling der Medien – und dabei vor allem „zu jung, zu schön, zu erfolgreich“, so jedenfalls die eigene und medial gern übernommene Zuschreibung. Später dann: gierig. Mit Hang zur Freunderlwirtschaft. Einst schillernd. Heute schuldig gesprochen. Reue? Keine Spur. Einsicht? Fehlanzeige. Dabei hätte der Ex-Politiker die vergangenen 16 Jahre ein feines Leben führen können. So wie wir alle – jedenfalls jene, die sich nicht bereichert und dabei haben erwischen lassen.
Warum fehlt viel zu oft jegliches Schuldbewusstsein? Weil Schuld nicht benannt wird, solange der Anzug sitzt?
Unschuldig im System
Aber warum eigentlich ist Reue keine Tugend? Warum fehlt hierzulande so oft jedes Schuldbewusstsein? Nicht nur beim Verurteilten – auch in der öffentlichen Wahrnehmung. Weil es immer schon so war? Weil Schuld nicht benannt wird, solange beispielsweise der Anzug sitzt? Weil viele mit genau diesem Verhalten durchkommen – und vieles nicht zum Skandal reicht? Weil gesellschaftliche (und mediale) Absolution schneller erteilt wird als ein Strafmaß? Nach dem Motto: War halt so. Ist halt so. Wird wohl wieder so sein.
Aus diesem Blickwinkel betrachtet, wird sich das Schauspiel bald wiederholen. Mit denselben Reaktionen. Denselben Argumenten. Denselben Etiketten: „Politprozess“, „Vorverurteilung“, „Unrechtsurteil“. Im Mittelpunkt: wieder Männer. Mit Slimfit-Anzug oder ohne. Mit dem Talent, in Grauzonen zu glänzen. Bis dahin: Unschuldsvermutung. In Österreich längst nicht mehr juristischer Begriff, sondern Schutzformel.
Wenn Zahlen stören
Und während der eine keine Schuld erkennt, obwohl ein Gericht sie festgestellt hat, geht es andernorts um das genaue Gegenteil: Transparenz. Ein Begriff, der in Österreich selten nüchtern verhandelt und meist emotional aufgeheizt wird. Das konnte man zuletzt – Beispiel zwei – an der Gehaltsdebatte rund um den ORF beobachten. Ein gebührenfinanzierter Sender mit 1,1 Milliarden Euro Umsatz, wovon rund 700 Millionen aus der Haushaltsabgabe kommen und dem ein jährlicher Transparenzbericht abverlangt wird. Wer mehr als 170.000 Euro brutto verdient, muss genannt werden. Auch Nebeneinkünfte gehören offenlegt.
Was passiert? Empörung. Über die Summen, vor allem aber über deren Sichtbarkeit. Die Debatte dreht sich nicht um Inhalte, sondern um die Zumutung, dass Zahlen öffentlich werden: „Miese Gehaltsdebatte!“, „Getöse um Gagen!“, „Erzwungene Offenlegung!“ „Promi-Pranger!“, Die üblichen Reflexe: Transparenz gilt schnell als Angriff. Offenlegung als Neiddebatte. Wer fragt, wird verdächtig. Wer hinschaut, stört. Und wer Dinge beim Namen nennt, führt eine Hexenjagd oder weiß nicht, was Leistung wert ist. Bloß nicht drüber reden, dann ist alles gut. Weil sonst? Sonst führen wir „nur“ eine Neiddebatte.
Wem das System nützt, wer dabei ist, der argumentiert so. Verständlich. Das ist der eine Blickwinkel. Den anderen nehmen jene ein, die nicht dazugehören. Ein Blick in die Statistik hilft bei der Einordnung: Der Median-Bruttoverdienst von Akademikerinnen? 66.500 Euro. Mit Lehrabschluss? 51.000 Euro. Im Gesundheitswesen? 56.000 Euro. Alles weit entfernt von jener Traumgage, die z. B. ein – sorry – vor allem herumschreiender Radio-Sportreporter, der in Summe 170.625,94 Euro brutto verdient. Als „leitender Redakteur“. Marktwert eben, so die gängige Argumentation. Wie blickt wohl die oft zitierte Kindergärtnerin darauf? Der Pfleger, die Pflegerin? Ihr Blickwinkel: ernüchternd und in der aktuellen Debatte nicht gefragt.
Der Blickwinkel entscheidet, worüber wir sprechen. Und worüber lieber nicht. Er schützt. Und er blendet. Wer dazugehört, übernimmt ihn. Wer ihn verlässt, sieht mehr – und manchmal zu viel. Für Österreich oft schon zu viel.
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Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 17/2025 erschienen.