Ein Besuch in der chinesischen Hightech-Metropole Shenzhen legt Europas Innovationsschwäche bloß: Während dort die Zukunft gestaltet wird, setzt Europa weiter auf Überheblichkeit und Ignoranz
Die Stadt der Zukunft schaut auf den ersten Blick wie eine ganz normale Stadt aus. Viele moderne Hochhäuser, ja. Viel Verkehr. Auffällig viele junge Menschen. Aber eben wenig sichtbares Hightech – von den omnipräsenten (Überwachungs-)Kameras an jeder Straßenecke einmal abgesehen. Im Südosten Chinas gelegen, gilt Shenzhen als die Hightech-Metropole schlechthin. Noch in den 80er-Jahren ein Fischerdorf ist die heute 25 Millionen Einwohner zählende Stadt längst Welthauptstadt der Innovation und zugleich eine der am schnellsten wachsenden Städte weltweit. Das Durchschnitts-alter liegt bei 29 Jahren. Die hier angesiedelten Tech-Konzerne sind Chinas Antwort auf Silicon Valley – und längst auch in Europa ein Begriff: der Technologiegigant Tencent, der weltweit führende Drohnenhersteller DJI, Smartphoneproduzent und Netzwerkausrüster Huawei und natürlich BYD. Jenes Unternehmen also, das sich binnen 30 Jahren erst zum größten Akkulieferanten für die Smartphonebranche und dann zum Weltmarktführer für E-Autos entwickelt hat.
Hightech-Alltag
Hier in Shenzhen treffen neue Produkte auf ein experimentierfreudiges, weil junges Publikum. Das E-Auto ist ein Massenprodukt. Auch Drohnen – etwa zur Essenslieferung in Parks – sind im Alltag angekommen. In den Hotels fahren Roboter in den Gängen. Putzen oder bringen die vergessene Zahnbürste ins Zimmer. Wer sich in einem autonom fahrenden Taxi durch die Stadt kutschieren lassen will, kann das tun. Wer überhaupt autonom Auto fahren will, ebenso. Bei Unfällen haftet der Fahrer, der zwar nicht fährt, aber sicherheitshalber noch im Auto sitzt. Für 600 Kilometer Reichweite lädt das Auto zehn Minuten, versprechen jene, die Autos und Technologie vorantreiben wollen und im gleichen Atemzug darauf hinweisen, dass man sich während des Zeitfensters von einmal Kaffee holen auch gleich eine neue Batterie einbauen lassen kann.
Apropos Verkehr: Die Vespa schlampig am Fahrbahnrand abzustellen, ist in jenen Bezirken von Shenzhen keine gute Idee, in denen Drohnen das Verkehrsgeschehen überwachen. Die Aufforderung, die Vespa umzuparken, kommt prompt auf das Handy. Ein Handy, das längst dreifach faltbar ist (und umgerechnet knapp 3.000 Euro kostet) und im übergroßen „Handyshop“ von Huawei genauso erworben werden kann wie ein Auto, in dem auf Knopfdruck ein großer Screen herunterfährt, damit die Kids auf dem Rücksitz einen Film schauen können. Der Weg zum Autohändler? Schnee von gestern.
Obendrein gibt es viele Spielereien zu entdecken: Der Klodeckel, der sich automatisch öffnet und schließt. Der Roboter, der den Coffee to go zubereitet und mit einem extra festen „Händedruck“ dafür sorgt, dass der Deckel auch tatsächlich auf dem Becher bleibt. Oder der üppige Bildschirm vor der Toilettenanlage, der anzeigt, wie hoch gerade Temperatur und Luftfeuchtigkeit in der Toilette sind und wie viele Klos überhaupt hier – oder wahlweise in 200 Meter Entfernung – frei sind.
Das ist meine subjektive Bestandsaufnahme nach einem neuntägigen Besuch in China, im Staccatotakt. Unvollständig und vielleicht auch ein bisschen naiv-euphorisch. Jedenfalls mit Scheinwerferlicht auf all das, was in dem riesigen Land mit 1,4 Milliarden -Menschen gut läuft. Wohl wissend, dass die Kehrseite der Medaille der Überwachungsstaat, die Menschenrechtsverletzungen und der Einparteienstaat sind. Hier viel Reichtum und 5G (demnächst auch 6G), dort viel Armut und keine ordentlichen Toiletten. Eine kriselnde chinesische Wirtschaft. Jugendarbeitslosigkeit und Handelskonflikte mit den USA und -Europa.
Innovationsskepsis
Und dennoch gilt: Wer verstehen will, welche Technologien unsere Zukunft – vielleicht schon bald – prägen könnten, muss nach China schauen. Nüchtern und neugierig. Einerseits beeindruckt, andererseits mit einer gesunden Portion Skepsis. Doch tun wir das? Nein, im Gegenteil. Anstatt Chinas rasanten technologischen Fortschritt als Weckruf zu verstehen, anstatt darüber nachzudenken, wie wir Schritt halten oder wie wir Innovationen mit unseren Werten und Vorstellungen in Einklang bringen könnten, greifen wir immer wieder zu derselben reflexhaften Antwort: „Ja, aber!“ Besonders beliebt in der alpenländischen Version: „Brauchen wir nicht. Wollen wir nicht.“
Statt uns den Herausforderungen zu stellen, setzen wir in Europa mehrheitlich auf das, was wir vermeintlich besonders gut können. Zum Beispiel den Verbrennungsmotor. Hier Weltmarktführer zu werden, ist eine Antwort, die wir liefern. Neben vielen anderen Antworten, die weder Mut noch Anstrengung erfordern. Es sind Antworten von gestern, mit denen wir die Zukunft gestalten wollen. Richtungsweisende Entscheidungen? Mangelware. Geschürte Ängste vor der Zukunft? Überall. Dazu eine Prise Überheblichkeit.
Die Geschwindigkeit, mit der China technologischen Fortschritte macht, ist beeindruckend. Der Hunger nach mehr offensichtlich. Auch so ein Gefühl nach neun Tagen China: Da kommt noch viel auf uns zu. Sie laufen sich gerade erst warm.
Was meinen Sie? Schreiben Sie mir bitte: gulnerits.kathrin@news.at