Wenn man jetzt einfach spielen könnte! Am besten gleich ohne Grenzen wie der Musikverein, der sein Erwachen mit einem pausenlosen Fest bis Ende Juli feiert. Oder wenigstens bis Saisonschluss Ende Juni wie alle großen Bühnen. Sie alle haben eine miserable Zeit hinter sich, die sich an Miserabilität gleichwohl nicht mit der Situation des Volkstheaters vergleichen lässt: 17 Monate war das leergespielte Haus umbauhalber geschlossen. Man hatte sich, das Ende der Direktion Anna Badora vor Augen, in die Ausweichlokalität Museumsquartier geschleppt und musste dort Anfang März über Nacht quittieren, weil Corona die Amtsgeschäfte übernommen hatte. Vier Schauspieler hatte der neue Direktor Kay Voges, 49, übernommen. Die anderen durften gerade noch ihre Habseligkeiten abholen. Als die Theater im Herbst für zwei Monate aufsperrten, war das Volkstheater noch im Umbau. Also arbeitete man wie besessen auf die Wiedereröffnung am 10. Jänner hin. Zwölf Produktionen waren fertig geprobt, und dann war wieder alles zu.
Und jetzt? Ist die Lage so, dass sich für sie nicht einmal ein nationalsprachliches Wort finden lässt. "Housewarming" betreibe man, sagt Voges, der im Direktionsbüro auf Corona-Abstand zur Schauspielerin Anna Rieser, 32, achtet. Gerade zehn Tage, zwischen 26. Mai und 6. Juni, kann man fünf größere und kleinere Produktionen zeigen. Dann kommen die Festwochen und dann das Festival Impulstanz, die beide im Haus eingemietet sind. Also: auf den 2. September!
Wenn diese Geschichte erscheint, ist die Premiere von Bernhards "Theatermacher" schon bestanden. Auch Peymann hat 1986 seine Burgtheater-Intendanz so begonnen: "Was, hier, in dieser muffigen Atmosphäre?" Voges hat für die schon in Dortmund gezeigte Arbeit viel Zuspruch erfahren, auch die Wiener Kulturstadträtin wurde so auf ihn aufmerksam. Namhafteste Bewerber ignorierend, ernannte sie den gebürtigen Düsseldorfer, der noch nie eine Vorstellung des Hauses gesehen hatte.
Der nach Wien mitgewanderte Titeldarsteller Andreas Beck beginnt wie gewohnt mit den Größenwahnsinnsmonologen des Theaterdirektors Bruscon, der mit seiner Wanderschmiere in einem Kaff gelandet ist. Aber Bernhard entwirft ja den Höllenkreislauf des Immergleichen, in dem die Familientruppe mit Frau, Sohn und Tochter festsitzt. Also beginnt man in anderer Spielart von vorn, und dann wieder, acht Mal insgesamt. "Die Bernhard'schen Rhythmen und Sprachkonstruktionen werden mit großem Respekt wiedergegeben", versichert Voges. "Sie werden dann in die Variation geführt und eingekocht und destilliert. Es gibt hier ganz wenige Worte, die nicht von Bernhard sind." Jenseits der Peymann'schen Referenzästhetik wolle man nachweisen, wieviele Rezeptionsgeschichten noch auf Bernhard warten.
Bezwingender Charme
Anna Rieser, die Bruscons Tochter verkörpert, ist neu im Ensemble. Sie hatte sich beworben, aber das wäre kaum nötig gewesen. Denn als sie in umsichtig kultiviertem Südsalzburgerisch den Nachwuchs-"Nestroy" für ihre Fulminanzleistung in Lars von Triers "Dogville" entgegennahm, saß der d e s i g n i e r t e Volkstheaterdirektor im Publikum des Theaters an der Wien und raunte seiner Partnerin zu: "Mein Gott, ist das eine charmante Persönlichkeit! Muss ich mir aufschreiben." Die Verhältnisse waren quasi schon beim Glückwünschen geklärt.
Anna Rieser, die aus nicht theateraffiner Badgasteiner Familie über das Mozarteum und das Linzer Landestheater in eine schöne Aufmerksamkeitsliga gelangte, ist neu im Ensemble. Schön und herausfordernd sei auch die Arbeit mit Voges, sagt sie, indes der drahtig eloquente und energetische Direktor scherzend anbietet, den Raum zu verlassen. "Man darf sich nicht schonen, und das ist gut, weil beim Schonen nichts herauskommt." Die Rolle sei in der neuen Lesart spannender als im Original, fügt sie hinzu.
Am 11. März ist sie in der Titelrolle von Elfriede Jelineks "Nora"-Weiterschreibung am Linzer Landestheater zuletzt auf der Bühne gestanden. Erst war es eine erholsame Pause, aber als der Entzug schlagend hätte werden können, stand sie schon in den Proben für drei Volkstheater-Produktionen. Das half. "Sonst wäre es schrecklich gewesen, ich wäre vereinsamt in dieser Zeit."
Ein Ensemble muss weichen
Davon ist jetzt weniger die Rede als je. Und auf den "Theatermacher" folgt noch das Salzburger Festspiel-Debüt als Schuldknechts Weib im "Jedermann"! Dass sie nun Begünstigte eines Ensemble-Umbaus ist, der speziell in Corona-Zeiten als grausam empfunden wurde? "Ich denke mir: Unser Beruf ist Veränderung", sagt sie. "Es gibt nicht viele große Theater, und wenn dort Jahre, Jahrzehnte lang keine Veränderung stattfindet, kommt es auch nicht zu einer künstlerischen Weiterentwicklung."
Das Volkstheater ist in dieser Hinsicht kein Einzelfall, Burgtheater, Staatsoper, Volksoper sind nicht anders verfahren. "Es gibt verschiedene Spielphilosophien und Fähigkeiten", argumentiert der Direktor. "Wir haben 21 Menschen. Mit einigen teile ich seit langem mein Theaterleben, andere kennen das Haus, andere sind ganz neu. Wir haben die Geschichte also nicht weggeschmissen, haben aber auch unsere eigene Geschichte nicht weggeschmissen und kriegen neue Impulse. Eine Frischzellenkur für uns alle."
Das Volkstheater, das zur Eröffnung anno 1889 noch größer als das Burgtheater war, fasst nach dem Umbau 850 Plätze, derzeit dürfen sich, Corona zu Ehren, maximal 440 Besucher zeitgleich im Haus aufhalten. Kommen denn wenigstens die? "Ich muss schon sagen, dass ich ein bisschen enttäuscht bin", räumt der Direktor ein. "Wenn man nach 17 Monaten das Volkstheater mit einem neuen Ensemble eröffnet, müsste man doch in einer Zweimillionenstadt binnen drei Tagen bei halber Belegung ausverkauft sein. Wir sind ok verkauft, aber es gibt noch Karten. Dabei haben wir ja noch nichts falsch gemacht! Es ist noch etwas Skepsis in der Welt", kommt er auf die Gründe. "Will ich mich testen lassen? Mit so vielen Menschen zusammenkommen? Das erzählen aber auch die Wirte. Es ist eine leichte Sozialphobie entstanden."
"Europa kaputt"
Sinnlos lange Theatersperren trotz mehrerer Studien, die das Infektionsrisiko bei Null ausweisen, haben das verursacht. Anna Rieser verweist auf einen Satz aus der eben unterbrochenen Vormittagsprobe, unveränderter Bernhard übrigens: "Ihr habt das Theater zerstört!" - "Das trifft genau zu", fällt der Direktor ein. "Es gab viele Versäumnisse! Man fragt sich, wieviel der Stadt und den Menschen das Theater wert ist. Es ist ernüchternd", stellt er fest, indes seine Schauspielerin den nächsten zentnerschweren Bernhard-Satz hervorholt: "Europa kaputt, die Kassen leer, 100 Jahre wird es dauern, bis das Zerstörte wieder aufgebaut ist."
So lange? Voges: "Für unsere Gesellschaften wird es lange dauern, der Schuldenberg, die Arbeitslosigkeit. Gerade eine Touristik-Nation wie Österreich wird die Auswirkungen zu spüren bekommen. Ich hoffe sehr, dass wir Wege finden, das nicht auf Kosten der Kultur zu machen." Andererseits gebe es wenige Städte mit solchem Bekenntnis zur Kultur. "Ich bin an einem der besten Plätze Europas gelandet. Aber auch hier wird die Frage sein, wer alles bezahlt. Der Reichtum an Kultur darf nicht weniger werden."
Denn anders als schlecht besuchte Tanker mit riesigen Personalkosten, die sich über die Kurzarbeit quasi saniert haben, war man hier rastlos. Im Herbst hat man für die Eröffnung im Jänner geprobt, und als es dann wieder nichts wurde, waren immer die nächsten zwei Wochen entscheidend. "Das Schrecklichste an der pandemischen Situation war die Perspektivelosigkeit, auf kein Ziel hinarbeiten zu können", sagt Voges. Man probte zwölf Produktionen gleichzeitig, aber zum 1. April musste man zum ersten Mal doch Kurzarbeit anmelden, weil sonst das Budget gekippt wäre. Nun ist mit einer schwarzen Null zu rechnen.
Erlösende Arbeit
Die viele Arbeit sei für alle erlösend, wenn nicht rettend gewesen, bekräftigen beide. Anna Rieser, die jetzt in der Josefstadt logiert, kannte Wien schon. Aber die Familie Voges konnte vom Wohnsitz in der Burggasse aus wenig erkunden, und auch die zugewanderten Schauspieler saßen fremd in der neuen Stadt fest. Jetzt will man endlich gemeinsam zum Heurigen und dann auf eine Donaufahrt.
Voges steckt sich -"darf ich?" - eine Zigarette an. Am 1. November sei in der Gastronomie das Rauchen verboten und kurz danach erstmals Corona beobachtet worden, entwirft er augenzwinkernd eine unbekannte Verschwörungstheorie.
Dann kommt man auf Ernsteres. Das Wiener Publikum ist schauspielerversessen, Unbekannte werden hier zögerlich willkommen geheißen. Schon Anna Badora ist am rabiaten Ensembleumbau gescheitert. "Ich komme aus einem Land mit 80 Millionen Nationaltrainern", gibt Voges etwas spitz zurück. "In Wien gibt es nur zwei Millionen Theaterintendanten, die genau wissen, was ich falsch mache. Ich kann nur tun, woran ich glaube. Das tue ich, und dann sollen die anderen 1.999.999 darüber diskutieren, ob es richtig war."
Wann würde er sich als gescheitert betrachten? Zunächst kämen die traditionellen 100 Tage Schonzeit. "Das ist meine Testphase, da lasse ich mir nichts sagen. Und dann braucht es zwei bis zweieinhalb Jahre, bis ein Ensemble so zusammenwächst, dass man es beurteilen kann."
Und wenn die 1.999.999 Kodirektoren nicht kommen?"Wir stehen hier mit weit offenen Armen. Wir tun, woran wir glauben, und kämpfen für die Menschen. Die Hoffnung lebt, dass das, was man gibt, aufgeht. Aber werde nicht schlaflos im Bett liegen und schauen, was in zweieinhalb Jahren ist. Ich habe tief im Herzen das Vertrauen, dass sich Qualität auf Dauer durchsetzt. Dass die Qualität hier nicht sofort erkannt wird, liegt in der Geschichte, auch Beethoven und Mozart wurden nicht als qualitativ brauchbar erkannt", führt er historisch zweifelhaft aus. "Es hat gedauert, und die Zeit gebe ich den Wienern auch."
Die allerdings zeigten nur geringe Bereitschaft zur Erkenntlichkeit, als sich Voges im Dezember mit der Endzeit-Collage "Dies Irae" am Burgtheater als Regisseur präsentierte. Die Kritiken waren von der Häme nicht weit entfernt, der Zulauf nahm schon fast die Corona-Sperre vorweg.
"Ich bin sehr stolz auf diese Arbeit", beharrt Voges auf dem Gezeigten (das in News besser als anderswo wegkam)."Aber es kam einiges zusammen. Erstens, dass sich da der neue Volkstheaterdirektor vorgestellt hat. Diese Heftigkeit und Weltuntergangsstimmung, die da teilweise in Zeitungen zu lesen war! Das amüsiert ja schon, das schreckt mich nicht ab. Ich empfinde die Kulturkritik hier als teilweise extrem provinziell. Die Schule des Sehens ist noch ausbaufähig, was nicht dem traditionellen Kanon entsprach, wurde nicht wahrgenommen. Und zweitens muss nicht nur ich lernen, eine Sprache für die Menschen zusammenzubringen. Es müssen auch einige Menschen lernen, eine Sprache zu lesen. So ist das mit Gegenwartskunst im Wandel. Die Kraft dieser Stadt ist ihr Traditionsbewusstsein und der Fluch der Stadt ist ihr Traditionsbewusstsein."
Man werde keine parteipolitischen Manifeste von der Bühne schmettern, fügt er hinzu. Aber die Kunst als vierte Macht im Staat werde sich schon melden. Soll, um das gleich zu überprüfen, Kurz zurücktreten? "Ich bin kein Kurz-Freund, und wenn ein Urteil gegen ihn gesprochen ist, muss er weg sein. Aber Anschuldigungsvermutungen sind erschreckend."
Denunzianten
Womit man bei der ortsfolkloristischen Denunziationskultur ist. Wurde da doch wahrhaftig medial enthüllt, jemand habe während der Corona-Sperre auf dem Balkon des Volkstheaters geraucht, und Voges' Ehefrau Mona Ulrich sei als Kostümbildnerin verpflichtet! Wobei Letztgenanntes keine ungebräuchliche Übung darstellt, sonst müssten an der "Burg" und der "Josefstadt" sinnloserweise exzellente Schauspielerinnen quittieren, und schon Peymann hätte die Dramaturgin Jutta Ferbers feuern müssen. Insgesamt, sagt Voges, habe sich die Empörungskultur zu Corona-Zeiten noch verfestigt. "Den Moment, zu schimpfen, ohne körperlich anwesend zu sein, den nutzen auch gewisse Journalisten. Die haben aber wenigstens den Klarnamen dabei. Im Netz kann ich auch ohne Klarnamen schimpfen. Und wenn dann nur noch jeder zu Hause vor seinem Laptop sitzen und hineinscheißen darf, weil Pandemie ist, reißt die Gesellschaft aus einander."
Und wehe, jemand erweist sich als unkooperativ, so wie die Schauspieler, die über die Aktion #allesdichtmachen zum Teil unbeholfen gegen die endlose Theatersperre demonstrierten. So eine Wut, so eine Rübe-ab-Atmosphäre sogar unter Kollegen! "Ich finde die Reaktion darauf bezeichnend für dieser Zeit", sagt Anna Rieser. "Es ist erschreckend, wie schnell wir gespalten sind. Das hat mich mehr als die Aktion an sich gestört, die ich allerdings auch nicht gutheißen kann."
Mehr als unglücklich sei die Aktion verlaufen, räumt Voges ein. "Aber man ist nicht sofort ein Nazi, wenn man aufsperren will. Die Frage ist aber, ob man mit Zynismus etwas bewegt. Das Ganze war unglücklich, wurde aber in kollektiver Empörung sinnlos aufgeputscht. Diese Empörung ist überhaupt ein Thema, das uns beschäftigt, und es geht darum auch im ,Theatermacher', der ein Dauerempörter ist. Es geht heute nur noch darum, wer seine Empörung lauter hinausschreit, bis wir im medialen Krieg sind."
Die alten Despoten
Deshalb habe man ans Ende des "Theatermachers" einen der wenigen nicht von Bernhard stammenden Sätze gestellt: "Könnt ihr nicht einmal nett mit einander sein?" Aber ist Theater denn nett? Die genialen Despoten, Peymann oder Castorf, haben plötzlich schlechte Zeiten. "Bei mir ist das klar", sagt Anna Rieser. "Wenn ich keinen angstfreien Raum habe, werde ich nie so gut sein, wie wenn ich mich wertgeschätzt fühle. Angst steht im Widerspruch zu Kreativität. Ich habe Despoten erlebt, und da ich Angst hatte, etwas falsch zu machen, kam am Ende auch nicht das Beste heraus." Und Voges ergänzt: Man könne Gräben bauen und einander daraus beschießen, um durch den Krieg zu etwas zu kommen. "Oder man baut gemeinsam Sandburgen, jeder in dem Bereich, wo seine Superkraft liegt. Bei uns ist gegenseitiger Respekt die Höchstinstanz: Kollektiv ins Gelingen verliebt zu sein. Ich möchte ein Theater machen, das größer ist als meine Vorstellung. Das geht nur im Kollektiv."
Wenn alle gemeinsam "Stopp!" riefen, würde Missbrauch auch gemeinsam unterbunden. Womit das Gespräch ans Ende kommt: zu den widersinnigen Frauenquoten, durch die selbst die Einladung zum Berliner Theatertreffen entwertet wird.
"Die Kunst muss das Zentrum sein, keine Quotengarantien", sagt Voges versöhnlich. "Aber es ist eine Aufmerksamkeit entstanden, Wege für Regisseurinnen zu öffnen, und das ist gut. Das Thema wird in zwei, drei Jahren durch sein, wenn sich Normalität einstellt und Kunst nicht mehr über Geschlecht definiert wird."
Hatte Anna Rieser schon mit einem #Metoo-Problem zu kämpfen?"Ja, schon", sagt sie, und damit endet das Gespräch. So wie es sich für ein kultiviertes Gespräch gehört.
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der Printausgabe von News (21/2021) erschienen.