Sophie bekennt offen, keine Kritik zu vertragen. Schwierig für Harry. Denn er lebt mit Sophie zusammen und riskiert ein Drama, wenn er ihr ehrlich rückmeldet, dass ihr irgendein Outfit nicht mehr steht. Sophie springt sofort auf den Aggressionskarren: "Na klar, ich bin dir nicht mehr schlank genug! Danke für diese kalte Abreibung! Früher hätte dir so ein Kleid garantiert an mir gefallen." Harry erklärt in der gemeinsam aufgesuchten Paartherapie, sich lieber auf die Zunge zu beißen, als mit der Wahrheit herauszurücken. Kaum ist dieses Bekenntnis gemacht, zerfleischt ihn Sophie förmlich. "Was du sagst, ist nicht die Wahrheit, sondern verletzend! Meinen Freundinnen gefällt jedes Outfit an mir, wenn ich mich darin wohlfühle!", poltert sie und fühlt sich nun nicht nur von ihrem Mann kritisiert, sondern auch über die Wahrheit geschulmeistert. Nicht besser ist es bei Heinz und Michaela, wenn er ihr gesteht, noch immer von seiner ersten Liebe zu träumen. Das gibt jede Menge Diskussionsstoff für hitzige Debatten. Den beiden wäre mehr Hitzigkeit unter ihrer Bettdecke jedoch entschieden lieber. Dann Conny und Peter: Er gesteht ihr nach zehn Jahren Partnerschaft in meiner Praxis, dass ihr Lieblingsnachthemd ein Liebeskiller ist. Auf ihren Wutausbruch hin versucht er, zu erklären, warum er so lang damit hintangehalten habe: Conny würde bei jedweder leisesten Kritik an seiner Liebe zweifeln. Und da sind wir schon an einem wunden Punkt des Frauseins: "Bin ich ihm noch gut genug?" Die Frage ist der Prototyp für typisch weibliche Selbstzweifel. Das Wort "gut" hier ein Platzhalter. Und nun tauschen wir "gut" durch andere Worte aus, wie schön, jung, sexy, schlank, perfekt, attraktiv und so weiter. Selbstzweifel sind wie "Unkraut in der Seele der Frauen". Klar können auch Männer an Selbstzweifeln leiden, aber viel weniger häufig auf äußere Attribute bezogen. Wie sage ich's nun meinem Partner oder meiner Partnerin?
Erster Tipp, und das kann Wunder wirken: Sagen Sie es in Ruhe. Das bedeutet, dass Sie nicht in einem emotionalen Ausnahmezustand, atemlos und mit rotem Kopf, aber ebenso wenig emotionslos sprechen. Und bitte lächeln. So dumm sich das anhört, üben Sie vor dem Spiegel oder mit Selfies. Und betrachten dann Ihr Bildnis auf seinen Sympathiewert. Aber mehr noch als um den Effekt Ihres Lächelns auf Ihren Partner geht es um die Wirkung, die es auf Sie selbst hat. Sie werden dadurch optimistisch, selbstbewusst und locker. Aufrichten, Schultern zurückziehen, Brustkorb öffnen, tief ein- und ausatmen. Wichtig, dass sich Ihre Bauchdecke beim Einatmen hebt und beim Ausatmen senkt.
Zweiter Tipp: "Ich-Botschaften" formulieren: "Für mich ist das so und so. Ich empfinde das so und so", anstatt apodiktisch zu behaupten, dass etwas in Stein gemeißelt sei. Harry könnte somit sagen: "Das Kleid steht dir gut, aber ich empfinde das andere Kleid als fast noch schöner an dir." Und Peter könnte zu Conny sagen: "Ich finde dich nackt noch viel heißer als in Pyjamas." Durch die bewusste subjektive Färbung erspart sich das Paar eine philosophische Debatte, was die Wahrheit ist, und findet Conny eher aus ihrem Nachthemd und in eine innige Umarmung. Der Mehrwert: Sie schütten Oxytocin aus beim Kuscheln statt Stresshormonen beim Streiten. Und tun somit was für ihr Liebesleben.
Und Heinz und Michaela? Da rate ich von zu viel Wahrhaftigkeit ab, wenn Heinz tatsächlich beständig von seiner ersten großen Liebe träumt. Manche Botschaften brauchen ein geeignetes Setting, wie zum Beispiel in einer Paartherapie. Hier wird einfühlsam moderiert, was sonst unsagbar und verletzend wäre. Der letzte Tipp kommt vom Philosophen Ludwig Wittgenstein und gilt im Zweifelsfall immer: Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.
Prof. Mag. Dr. Monika D. Wogrolly, Philosophin und Psychotherapeutin
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