ÖVP, SPÖ und NEOS wollen es noch einmal mit einer Koalition probieren. Dabei sollten sie jene Reformen angehen, die die liberale Demokratie nachhaltig sichern. Denn die blau-schwarzen Gespräche haben deutlich gemacht, was alles möglich ist.
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Angesichts der Verhandlungsprotokolle von FPÖ und ÖVP wurde jenen mulmig zumute, die beim schwarz-rot-pinken Gezerre bald nach der Nationalratswahl stur ihre Wahlprogramme herunterbeteten und die Koalitionsgespräche scheitern ließen. Nichts weniger als den Umbau der Republik nach Orbáns Vorbild und eine Gefahr für die liberale Demokratie sah man herandräuen. Auch deswegen probieren es Andreas Babler (SPÖ) und Beate Meinl-Reisinger (NEOS) noch einmal mit ÖVP-Chef Christian Stocker. Was sie auf ihrer Themenliste haben sollten: die Absicherung der liberalen Demokratie und ihrer tragenden Säulen, etwa Justiz und Medien – schon um sich Unbehagen nach dem nächsten Wahlerfolg der FPÖ zu ersparen.
News bat den Anti-Korruptionsexperten und Proponenten des Rechtsstaats- und Antikorruptionsvolksbegehrens Martin Kreutner um eine To-do-Liste für die nächste Regierung:
Eine unabhängige Justiz
Während die drei Parteien bei ihren Verhandlungen das Justizministerium ganz nonchalant hin- und herschieben, sieht Kreutner die Justizpolitik gefordert. Ganz oben auf seiner Liste steht „die Einhaltung des Gewaltentrennungsprinzips bzw. der Rechtsstaatlichkeit. Wir sehen leider gerade in den USA oder Argentinien oder anderen Staaten: Da wird ein Notstand behauptet oder herbeigeredet, der es dann vermeintlich erlaubt, die Grenzen der Rechtsstaatlichkeit zu überschreiten.“
Wie man verhindern kann, dass sich Politiker in Österreich ähnlicher Tricks bedienen? „Zunächst muss die Maxime der Gewaltenteilung bei jeder Regierung unverrückbar sein.“ Man könne dieses Prinzip aber noch stärken. Zum Beispiel: mit der Einrichtung einer unabhängigen Bundesstaatsanwaltschaft.
Man muss höllisch aufpassen, dass mit einer Reform keine ,Verschlimmbesserung‘ kommt
ÖVP und Grüne haben in ihrer Koalition – erfolglos – um diese Reform gerungen. Justizministerin Alma Zadić wollte ein unabhängig besetztes Dreier-Gremium, Verfassungsministerin Karoline Edtstadler eine vom Nationalrat bestellte Einzelperson. Kreutner, der mit einer Expertenkommission für das Justizministerium politische Einflussnahmen auf Verfahren untersucht hat, fordert, dass sich die Politik aus der Bestellung der Generalstaatswaltschaft heraushält: „Man muss höllisch aufpassen, dass mit einer Reform keine ,Verschlimmbesserung‘ kommt, etwa, indem man eine Einzelperson zum Generalstaatsanwalt macht und das Amt politisch besetzt. Diese Einzelperson hätte keine Rechenschaftspflichten, wie sie eine Ministerin oder ein Minister hat. Und sie wäre die politische Sollbruchstelle: Wenn etwas schief geht, ist sie verantwortlich und niemand anderer. Leider gibt es da auch bedenkliche Beispiele, etwa kürzlich in der Schweiz.“
Eine zweite „Verschlimmbesserung“ wäre eine parlamentarische Kontrolle der Generalstaatsanwaltschaft, findet Kreutner. „Ich bin ein starker Verfechter des Parlamentarismus, aber es kann nicht sein, dass einzelne Strafverfahren im Parlament oberinstanzlich zerpflückt werden. Das wäre ein essenzieller Bruch der Gewaltenteilung. Die Legislative ist berufen, Justizpolitik zu machen, die Gerichtsbarkeit liegt bei der Judikative.“ Für die Einsetzung einer Generalstaatsanwaltschaft braucht es eine Zweidrittelmehrheit im Nationalrat. Grundsätzlich haben sich alle Parteien außer der FPÖ dafür ausgesprochen – mit unterschiedlichen Konzepten.
Minister entmachten
Viel schneller könnte eine neue Regierung ein anderes Problem im Justizbereich lösen: politische Einflussnahme. „Sie ist derzeit nicht nur möglich. Sie steht sogar im Gesetz“, sagt der Experte. Beispiel: die Kronzeugenregelung. Ob am Ende langer staatsanwaltlicher Ermittlungen eine Einzelperson in einem Einzelstrafverfahren Kronzeugenstatus erhält, hat die Justizministerin bzw. der Minister zu entscheiden, und das ist nicht delegierbar.
Die Amtsinhaber beteuern gerne, dass sie sich in solche Entscheidungen nicht einmischen. Dennoch steht ihre Zuständigkeit im Gesetz. „Das könnte man mit einfacher Mehrheit sehr schnell ändern“, sagt Kreutner. „Wir wissen, dass es immer wieder politische Interventionen bei Verfahren gegeben hat, ebenso illegale Informationszu- und -abflüsse.“ Weitere Forderung: die Verkürzung des Instanzenzugs in der Staatsanwaltschaft und die Verlagerung des Berichts- und Weisungswesens weg von der Politik.
Keine politischen Urteile
Im Umkehrschluss wünscht sich Kreutner auch etwas von der Justiz. Auch sie möge die Gewaltentrennung ernst nehmen. „In den vergangenen Jahren sah man eine gewisse Tendenz, dass sich Höchstgerichte mit ihren Entscheidungen auf politisches Terrain begeben. Das führt einerseits dazu, dass die Politik dazu übergeht, unliebsame Entscheidungen ans Gericht zu verschieben. Andererseits dazu, dass Höchstgerichte gesellschaftspolitische Entscheidungen treffen. Klimapolitik, beispielsweise, gehört in Parlamenten oder im gesellschaftlichen Diskurs geregelt, nicht vor Höchstgerichten.“
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Gescheitert: Die drei Regierungsverhandler im Dezember des Vorjahres. Bald darauf stiegen NEOS und ÖVP aus den Gesprächen aus
© Georges Schneider / photonews.at / picturedesk.comMehr Einsatz gegen Korruption
Spezielles Augenmerk legt Martin Kreutner auf die Bekämpfung der Korruption: Die Koalition müsse sich jedenfalls in einer Präambel zum Regierungsprogramm zu diesem Anliegen bekennen, ebenso das Parlament. Das alles vor dem Hintergrund, dass Österreich im kürzlich veröffentlichten Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International auf einem Tiefpunkt angekommen ist. In Österreich gebe es zwar eine offizielle Anti-Korruptionsstrategie, „aber Hand aufs Herz: Wer kennt die?“ Was die nächste Regierung also tun muss: „Einen glaubwürdigen Aktionsplan erstellen, mit einer Berichtspflicht an das Parlament, wo jährlich der Status beraten und glaubwürdige Adaptierungen vorgenommen werden sollten.“
Internationale Studien zeigen, so Kreutner, dass in der Bevölkerung die Toleranz gegenüber Korruption abgenimmt und sie Maßnahmen der Politik erwartet. „Gleichzeitig hat man aber den Eindruck, dass das auf der hohen politischen Ebene noch nicht angekommen ist. Da versucht man oft immer noch, durchzutauchen. Jüngste Beispiele gibt es etwa in der Wiener Kommunalpolitik.“
Unabhängiger Journalismus
Als noch FPÖ und ÖVP am Verhandlungstisch saßen, erklärte NEOS-Chefin Beate Meinl-Reisinger im News-Interview: „Man hätte schon früher über Inseratenkorruption reden müssen, mit der versucht wird, Medien zu gängeln. Man hätte über den ORF reden müssen und darüber, ihn zu entpolitisieren. Herbert Kickl muss sich den ORF nicht einmal umbauen. Er hat alle Instrumente des Einflusses in der Hand.“ Wie nun das Medienkapitel in einem Regierungsprogramm mit pinker Note aussehen wird? Kreutner fordert jedenfalls eine Entpolitisierung des ORF-Stiftungsrats. Und er sieht ein Problem in der beim Bundeskanzleramt angesiedelten Journalistenausbildung, die nach Schließung der bundeseigenen Wiener Zeitung etabliert wurde. „Ob das etwas ist, das modernen europäischen Standards der Medienfreiheit und journalistischen Unabhängigkeit dient, bezweifle ich.“
Der Präsident des Presseclubs Concordia, Andreas Koller, schreibt der Regierung zusätzlich ins Pflichtenheft: „Politiker entziehen sich zunehmend kritischen Journalistenfragen und setzen auf ungefilterte Frontal-TV-Ansprachen sowie die Jubelberichterstattung ihrer eigenen Social-Media-Kanäle.“ Diesen „Unsinn“ solle die neue Regierung abstellen.
Was Österreichs Medienlandschaft braucht
Andreas Koller, Präsident des Presseclubs Concordia
„Was ich der Regierung gern ins Pflichtenheft schreiben würde: Den ORF am Leben lassen und gleichzeitig den Privatmedien Luft zum Atmen geben. Qualitätsjournalismus fördern anstatt den Medienboulevard durch Gefälligkeitsinserate zu bestechen. Die Medienkompetenz der jungen Menschen fördern, und zwar in allen Stufen des Bildungssystems. Ernsthafte Schritte gegen den Abfluss österreichischer Werbemilliarden auf internationale Plattformen setzen. Das Infofreiheitsgesetz ernst nehmen und die Medien nicht der Bedrohung durch existenzgefährdende Slapp-Klagen aussetzen. Den Österreichischen Presserat ausreichend dotieren. Gegen Fake-News-Schleudern im Internet vorgehen. Parteipolitik raus aus den ORF-Gremien.
Was sonst noch wichtig wäre: Die Kommunikation der Politik mit den Wählerinnen und Wählern ist zur Problemzone geworden. Politiker entziehen sich zunehmend kritischen Journalistenfragen und setzen auf ungefilterte Frontal-TV-Ansprachen sowie die Jubelberichterstattung ihrer eigenen Social-Media-Kanäle. Das tut dem politischen Diskurs nicht gut. Die neue Regierung könnte mit gutem Beispiel vorangehen und diesen Unfug abstellen.“
Was ich wirklich vermisse, ist eine ernsthafte Diskussion über die Wurzeln der politischen Polarisation
Was ist Demokratie?
Die komplizierteste und zugleich wichtigste Aufgabe einer nächsten Regierung liege in der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung, sagt Martin Kreutner. „Was ich wirklich vermisse, ist eine ernsthafte Diskussion über die Wurzeln der herrschenden politischen Polarisation und der Stärkung der politischen Ränder. Deren Wählerinnen und Wähler als Nazis oder Linksextreme abzutun, ohne Bereitschaft, sich inhaltlich einzulassen, ist ein Fehler. 80 Prozent von ihnen sind einfach nur frustriert, fühlen sich – in der Eigenwahrnehmung als Majorität – marginalisiert. Wir haben ergo eine riesengroße Repräsentationslücke. Was wir heute brauchen würden, ist Mut und Tat zu mehr deliberativer Demokratie. Demokratie ist in ihren Grundelementen Diskurs und Diskussion. Und wie es Alexander Van der Bellen formuliert hat: Kompromiss.“
Schon Hans Kelsen, der die österreichische Verfassung formuliert hat, habe in seiner Staatslehre geschrieben: „Kompromiss bedeutet: sich vertragen. Alle soziale Integration ist letzten Endes nur durch Kompromiss möglich.“ Die Fähigkeit zum Kompromiss sei in den letzten Jahren verloren gegangen.
„Das Recht hat der Politik zu folgen?“
Rückblende auf die wenigen Monate, die Herbert Kickl in einer Bundesregierung verbracht hat. „Das Recht hat der Politik zu folgen, nicht die Politik dem Recht“, sagte er als Innenminister und stellte u. a. die Europäische Menschenrechtskonvention infrage. Ein Satz, der ins Treffen geführt wird, wenn man argumentiert, Kickl wolle aus Österreich Orbánistan machen. Was der Experte dazu meint? „Beides stimmt: Natürlich ist die Politik dem Recht unterworfen. Kein Politiker steht über dem Gesetz und so soll es auch bleiben. Aber gleichzeitig macht die Legislative die Spielregeln für die Justiz, von der Strafprozessordnung bis zur Verfassung und internationalen Standards wie der Menschenrechtskonvention. Die Politik hat die Macht, Gesetze zu formen. Das ist im Sinne des Gesellschaftsvertrags auch legitim, denn sonst hätten wir Anarchie oder das Recht des Stärkeren.“
Was das für die Menschenrechtskonvention heißt? „Prinzipiell ist sie einzuhalten. Punkt. Kein Politiker, keine Regierung darf sich über die EMRK stellen. Gleichzeitig ist es legitim, nach mehr als 50 Jahren Bestand darüber zu diskutieren, ob die Gegebenheiten von 2025 Nachschärfungen verlangen. Allerdings nur in den entsprechenden Gremien und mit den entsprechenden Abstimmungen. Und gewisse Dinge können auch da nicht infrage gestellt werden: Ist Folter in Ausnahmefällen zulässig? Nein! Sind Kriegsverbrechen, ist Völkermord zulässig? Nein! Aber es ist sehr wohl diskutabel, wann jemand als Wirtschaftsemigrant gilt und wann als politisch Verfolgter.“
Nicht das einzige heikle Terrain, auf das sich Schwarz, Rot und Pink begeben müssen.
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Martin Kreutner, 61
ist Jurist und Sozialwissenschafter. Er war Leiter des Büros für interne Angelegenheiten im österreichischen Innenministerium sowie Gründungsdekan der International-Anti-Corruption Academy in Laxenburg. Zudem war er Mitinitiator des Rechtsstaat- und Antikorruptionsvolksbegehrens, das 2022 zur Unterschrift vorlag.
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr.09/2025 erschienen.