Sexy findet Martin seine Frau schon lang nicht mehr. Und so richtig war sie das für ihn wahrscheinlich nie. „Wissen Sie“, sagt er in der Psychotherapiesitzung mit Sorgenfalten auf der Stirn, „wir waren zum Zeitpunkt der Heirat noch jung und dumm. Birgit entspricht eigentlich gar nicht meinem Beuteschema. Aber sie ist die perfekte Partnerin und Mutter. Ein Familienmensch.“ Birgit ist erfolgreich im Beruf. Sie ist auch dreifache Mutter und noch etwas – eine begnadete Kinkeeperin. Im Englischen bezeichnet man mit dem Begriff „Kinkeeping“ die eher Frauen vorbehaltene Aufgabe, das Familiensystem zusammenzuhalten, Beziehungen und eine positive Umgangskultur zu erhalten. Aber damit nicht genug. Viele Männer bekennen, dass ihnen der direkte Draht zur Familie nicht möglich sei. Geburtstagsfeste, Jubiläumsfeiern, Familientreffen, Weihnachtsfeste, Osterrituale – alles geht zumeist aufs Konto der Frauen. Mit anderen Worten sind sie es, die Familie erschaffen, erhalten und moderieren. Rituale, Feste, Begegnungen. Settings der Begegnung und des Austauschs werden kreiert und gestaltet, Locations ausgewählt und dekoriert, Traditionen gepflegt und Beziehungsstile eingeführt. All diese Fähigkeiten fallen im Englischen unter den Begriff „Kinkeeping“, was ungefähr die Bedeutung von „Wächterin der Verwandtschaft“ bedeutet. In der Psychologie steht die „Kinkeeperin“ für eine soziale Netzwerkerin, die Bedürfnisse und Erwartungen im familiären Umfeld erkennt und befriedigt. Ihr Ziel ist es, das Familiensystem zu erhalten. So weit, so gut. Dass dieser zusätzliche „Job“ Vorteile hat, aber auch unerwünschte Nebenwirkungen, sehen wir uns genauer an.
Zuerst die Vorteile einer Kinkeeperin:
- Ihre Schlüsselrolle. Aus Sicht von Männern wie Martin haben Frauen wie Birgit in der Familie die Poleposition. Was einen durchaus neidisch machen kann. Immer geht alles nur von ihr aus und laufen die familiären Bande bei ihr zusammen. Sie sucht aus, kocht, catert, kontrolliert, erschafft Routinen und Rituale. Sie ist die allmächtige Übermutter.
- Familiäre Werte. Eine Kinkeeperin steht nicht nur für erfolgreiches Netzwerken und Bedürfnisbefriedigung innerhalb der Familie. Sondern für mehr: Für die familiäre Willkommenskultur ebenso wie für Wertschätzung, Zusammenhalt, Geborgenheit, Beheimatung, Wunscherfüllung, Identität, Tradition, Stabilität und Sicherheit. Daher fällt es Betroffenen so schwer, sich von ihrer Partnerin zu trennen, wenn sie das gelungene Konstrukt Familie nicht aufgeben und nicht sozial isoliert sein wollen.
Und jetzt die unerwünschten Nebeneffekte:
- Überforderung. Wer zu Perfektionismus neigt, gerät früher oder später durch die Vielfachbelastung in Beruf, Partnerschaft und Familie an seine naturgegebenen Grenzen. Und landet in einer Erschöpfungsdepression oder einem Burn-out.
- Weniger Sex. Wer dauernd Familie managt, beklagt häufig einen Rückgang oder Verlust der Libido. „Atemlos durch die Nacht“, weil so viele Familienfeste zu feiern, so viele Einladungen zu gestalten und Erwartungen zu befriedigen sind. Wer fühlt sich da noch sexy?
- Dissoziation. Wer immer nur bei den Bedürfnissen der anderen ist, schüttet zwar gewaltig Adrenalin aus und kennt buchstäblich keinen Schmerz: Aber auch nur, weil die Kinkeeperin schon fast wie in Trance agiert und macht und tut. Und dabei eins fast unmerklich verliert – den Kontakt zur eigenen Befindlichkeit, ihren Grenzen, Bedürfnissen und Gefühlen.
Hier noch ein Selbsttest:
Wie reagieren Sie auf die Frage, wie es Ihnen geht? Wenn Sie da schon genervt oder gar erschrocken zusammenzucken und die Frage abtun, kann das ein Indikator Ihrer maximalen Überlastung und eines kurz bevorstehenden psychischen oder physischen Zusammenbruchs sein. Daher darf auch hier eine Gleichstellung stattfinden. Und können viel mehr Väter und Gatten als Wächter des familiären Zusammenhalts ihren Mann stehen.
Haben Sie noch Fragen? Schreiben Sie mir bitte: praxis