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"Ich dachte, auf mich würden nur noch Krankenkassenbeiträge und Haarausfall mit einer Prise Scheidentrockenheit warten", so Nina, bald 50 Jahre alt. Zwischen zwei jungen Männern fühlt sie sich "wie ein "original Vintage-Stück"".
Die Berlinerin lebt ein Leben, bei dem wohl viele Menschen Anknüpfungspunkte finden: geschieden, die Kinder aus dem Haus, das Verhältnis zur Mutter schwierig. Und dann verliebt sie sich auch noch in einen gut 20 Jahre jüngeren Mann, womit sie selbst zumindest genauso hadert wie ihr Umfeld.
An sich recht alltägliche Ereignisse bestimmen Ninas Leben. Mit Perspektivwechseln gelingt es Decker, von verschiedenen Seiten auf die Dinge zu schauen. So bietet sie den Leserinnen und Lesern etwa bei Spannungen zwischen Nina und deren jüngerer Schwester Lena zwei Interpretationen.
Die Passagen aus Ninas Sicht, aus Ich-Perspektive geschrieben, nehmen den Großteil ein. Sie wechseln sich immer wieder mit Kapiteln ab, in denen Lena, ihr Mann Florian oder der junge Geliebte David die Hauptrolle innehaben. Dann beobachtet die Erzählerin die Szenerie von außen.
Auch die Mutter, Ninas Kinder, ihre engste Arbeitskollegin und beste Freundin sowie der Ex-Mann und ein paar kleine Figuren am Rande füllen die rund 460 Seiten. In Fernsehkategorien wäre das genug Material für eine kleine Serie.
Und als wäre das Zwischenmenschliche nicht schon ereignisreich oder strapaziös genug, baut Decker auch noch einen Missbrauchsskandal in der Medienbranche ein. Eine, in der sich die Regisseurin und Drehbuchautorin auskennt: 2007 debütiere sie als Co-Autorin mit dem Kinoerfolg "Keinohrhasen" mit Til Schweiger, Nora Tschirner und Matthias Schweighöfer.
Decker schreibt kurzweilig und oft mit einer gewissen Würze. "Vielleicht hat Lena einfach einen Körper, der am besten für Bilanzbuchhaltung geschaffen ist", heißt es an einer Stelle. Und an anderer: "Ihre Libido hat nur für Flori einfach rein platonische Gefühle."
Die Autorin schildert die emotionale Lage ihrer Figuren abwechslungsreich und eindringlich. Gerade durch die Innensicht ihrer Protagonistinnen bekommt man beim Lesen mit der Zeit ein gutes Gespür dafür, wie sie ticken und wie sie wohl bei nächster Gelegenheit handeln. Potenzial zum Ansherzwachsen ist da.
Auffallend ist, dass die Hauptfiguren allesamt Frauen sind. Auch wenn David als junger Lover allein durch den Titel des Romans eine vermeintlich relevante Rolle hat und immer wieder Anlass für Diskussionen und Erinnerungen ist, taucht er selbst nur hin und wieder in der Geschichte auf. Das Buch ist vor allem eine Hommage an Frauen, die sich selbst finden. Nichtsdestotrotz können sicher auch Männer an dem Roman Gefallen finden.
Für alle, die sich die warmherzige Geschichte lieber vorlesen lassen wollen, gibt es ebenfalls ein Angebot: Die Schauspielerinnen Katja Riemann und Anna Maria Mühe haben das gleichnamige Hörbuch eingelesen.
(S E R V I C E - Anika Decker: "Zwei vernünftige Erwachsene, die sich mal nackt gesehen haben", dtv Verlag, 480 Seiten, 23,70 Euro)
WIEN - ÖSTERREICH: FOTO: APA/dtv Verlag