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Isolation und Niedertracht: "Golden Years" à la Tocotronic

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Tocotronic-Sänger Dirk von Lowtzow beim Donauinselfest 2019
©APA/APA/HERBERT P. OCZERET/HERBERT P. OCZERET
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Ist das Realitätsverweigerung? Ein böser Witz? Oder irgendwas mit Postmoderne? "Golden Years" nennen Tocotronic ihr 14. Album - und das in Zeiten, die so gar nichts Güldenes an sich haben. "Für uns ist es der perfekte Titel", meint Sänger Dirk von Lowtzow: "Er ist wie ein Kippbild. Man kann ihn doppelsinnig interpretieren." Die Songs selbst fügen sich wunderbar ein in das Oeuvre der deutschen Indie-Rocker und halten doch ein paar Überraschungen bereit.

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"An manchen Tagen habe ich das Gefühl, er vermittelt doch Hoffnung - und an anderen Tagen kommt er mir wahnsinnig sarkastisch vor angesichts der Gegenwart", geht von Lowtzow im APA-Gespräch noch genauer auf den Albumtitel ein. Die verwendete Zackenschrift "irgendwo zwischen Crust Punk und Black Metal" verdeutliche diesen Zwiespalt. "Aber uns interessieren immer Sachen, die schillern, die ihre Farbe wechseln je nachdem, welches Licht darauf fällt."

Tocotronic - das sind neben Sänger und Songschreiber Dirk von Lowtzow Jan Müller (Bass) und Arne Zank (Schlagzeug) - gibt es seit gut drei Jahrzehnten. Mit ihrer Mischung aus verspielter Rockmusik und intellektuell unterfütterten Texten hat das Trio den Popdiskurs im deutschsprachigen Raum wesentlich mitgeprägt. In den 90ern waren sie mit ihren Adidas-Trainingsjacken-Outfits die Posterboys der Hamburger Schule, zu der auch Die Sterne oder Blumfeld gehörten, und lieferten mit rauen Songs wie "Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein" oder "Let There Be Rock" gleich die perfekten T-Shirts-Slogans mit. Später wurden die Lyrics feinsinniger und verrätselter, die Musik vielschichtiger und durchlässiger - was auch mit Gitarrist und Keyboarder Rick McPhail zu tun hatte, der 2004 zur Band stieß und erst im Vorjahr aus nicht näher genannten persönlichen Gründen bis auf weiteres wieder ausgestiegen ist.

An "Golden Years" hat McPhail allerdings noch mitgewirkt. Zwölf Stücke enthält das Album - und wie schon der Vorgänger "Nie wieder Krieg" hat es über weite Strecken einen recht persönlichen Anstrich. "Die Platte ist sehr intim auf gewisse Art. Es ging uns schon darum, sehr intime Situationen zu beschreiben, aber ich glaube, andererseits gibt es einen Dialog zur Gegenwart, die ja eigentlich schwer zu fassen ist, weil sie sich dauernd verändert und auch so disruptiv ist", erläutert Dirk von Lowtzow.

Auch wenn ein echter roter Faden fehlt, gebe es natürlich "Grundthemen, die sich in die Arbeit einschleichen. Das sind bei diesem Album sicherlich Vergänglichkeit, der Tod, die Feier des Lebens, um der Vergänglichkeit etwas entgegenzusetzen, und - was in der Rock- und Popmusik immer schon ein großes Thema gewesen ist - Isolation und Einsamkeit." Davon zeugen Stücke wie "Der Tod ist nur ein Traum", "Bleib am Leben" oder "Mein unfreiwillig asoziales Jahr". Von Lowtzow hofft, dass die neuen Songs "eine seismografische Qualität" haben, "wenn ich darüber lese, dass gerade junge Leute viel häufiger an den Tod denken oder stärker von Einsamkeitsgefühlen betroffen sind, als das offenbar bei früheren Generationen der Fall war".

Musikalisch changiert die Band wie gewohnt zwischen Rock und Ballade und ohne eng abgesteckte Genregrenzen. Aber mit ziemlich dick aufgetragener Nostalgie im folkigen Titelstück "Golden Years", dem gut gelaunten Abgesang auf Berlin ("Bye Bye Berlin") oder einem dank Maultrommel entstehenden Spaghetti-Western-Sound in "Niedrig" - noch ein Song über Isolation - sorgt die Platte dann doch für ein paar Überraschungsmomente.

Seismografisch und ungewöhnlich zugleich lässt sich "Denn sie wissen was sie tun" an - ein für Tocotronic-Verhältnisse erstaunlich unverblümter politischer Protestsong. "Diese Menschen sind gefährlich / Sie sind gänzlich unverdreht / Sie leben völlig selbstverständlich / Terror als Identität", heißt es da etwa. "Es gibt Ereignisse, die Impulse auslösen. In dem Fall war es, dass im Sommer 2023 die Umfrageergebnisse für die AfD erstmals über 20 Prozent lagen und die Frage, warum das so ist", erinnert sich von Lowtzow: "In den Medien wurde sofort der Mythos vom Protestwähler reaktiviert. Für mich ist die plausibelste Erklärung aber, dass es die AfD geschafft hat, über die Zeit eine in Teilen gewaltbereite Gefolgschaft heranzuzüchten, die genau diesen Faschismus, den Rassismus, diesen Irrsinn, den die AfD verzapft, an der Macht sehen will. Darum geht es in diesem Lied: Diese Leute wissen genau, was sie tun."

Man könne das Lied freilich tagespolitisch in Bezug auf die AfD oder die FPÖ, "die ja in dieser Hinsicht Avantgarde ist", aber auch als Song über Niedertracht im Allgemeinen lesen. "Wenn man das Lied aus dem Blickwinkel betrachtet, dann muss man sagen, könnten diese Menschen, die gefährlich sind, auch wir selber sein. Weil jeder von uns weiß, wie stark diese Niedertracht an gesellschaftlicher Hegemonie gewonnen hat und wie schwer man sich dagegen wehren kann, sie selbst auszuüben. Mir ist es schon wichtig, dass diese selbstreflexive Ebene ein bisschen anklingt, denn sonst wird's ein bisschen wohlfeil."

Der Tocotronic'sche Lösungsansatz gegen die zerstörerische Fiesheit klingt schaurig-zärtlich: "Darum muss man sie bekämpfen / Aber niemals mit Gewalt / Wenn wir sie auf die Münder küssen / Machen wir sie schneller kalt." Eine ernst gemeinte Handlungsanweisung? "Uns ging es da um ein Bild, das aus der lyrischen Drastik kommt", klärt Dirk von Lowtzow auf: "Die Vorstellung, man nimmt jemanden und küsst ihn zu Tode, raubt ihm durch seine Zärtlichkeit den Atem und kann ihn so eliminieren, ist schon eine drastische Fantasie, die natürlich im Widerspruch zu der Aussage 'Aber niemals mit Gewalt' steht. Meine Hoffnung wäre, dass durch diese Dialektik eine poetische Kraft und ein böser Witz entsteht. Ein böser Witz ist gar nicht die schlechteste Waffe gegen Faschisten."

Wer aber glaubt, die Musik von Tocotronic speist sich allein aus biografischem Erleben und der "Gegenwart mit all ihren Irrungen, Wirrungen und Grausamkeiten", der irrt. Denn ebenso wichtig für das Werk sind von jeher Referenzen und Zitate, schließlich sei man ja "in die Postmoderne hineinpubertiert", lacht Dirk von Lowtzow. Popkunst sei Zitatkunst. "Deshalb gibt es immer wieder Einflüsse aus Filmen, Literatur, Theorie, Bildender Kunst usw. Da bin ich als Songschreiber schon auch proaktiv auf der Suche, immer wieder etwas zu finden, was in mir etwas zum Klingen bringt, was dann die Musik zum Klingen bringt."

Live werden Tocotronic die "Golden Years" jedenfalls im Zuge der anstehenden Tour zum Klingen bringen. Am 22. März macht die nun wieder in Originalbesetzung spielende Band im Wiener Konzerthaus Station - der vorerst einzige Österreich-Termin. Einen Tag davor feiert von Lowtzow seinen 54. Geburtstag. Wie viel Rock 'n' Roll macht der Körper denn da eigentlich noch mit? "Ich glaube nicht, dass es viel mit dem Alter zu tun hat. Nicht umsonst sagt man ja: Je oller, je doller. Da geht schon einiges", weiß der Toco-Frontmann - um dann einzuräumen: "In meinen Fall aber eher nicht, weil ich in der Vergangenheit vielleicht ein bisschen zu viel gefeiert habe."

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