Das Identifizieren von Krankheiten auf Gemälden der „Alten Meister“
Jahrhundertelang wurden sie einfach nur bewundert. Die Gemälde der „Alten Meister“ hingen in Villen, Schlössern und Klöstern der Mäzene, bis sie ab dem 19. Jahrhundert in Museen auch dem breiten Publikum zugänglich waren.
Lange vor der Fotografie versuchten Künstler, die Wirklichkeit so realistisch wie möglich darzustellen, verzichteten oft auf Verschönern, Verschleiern oder Täuschen, um Behinderungen und Krankheiten aus ihren Kunstwerken zu verbannen, und konfrontierten Betrachter mit den Schrecken des alltäglichen Lebens.
Tumor
Bis Mediziner gemeinsam mit Kunsthistorikern erkannten, dass die Analyse von Erkrankungen, Verletzungen und Gebrechen in Gemälden wichtige Hinweise zu den Lebenszeiten der Künstler lieferten. Sie gründeten ISIS, die International Society of Icono-Diagnosis.
Ein berühmtes Beispiel ist die Diagnose eines Krebstumors bei Margherita Luti, einer jungen Frau, deren Porträt Raffael (1519) zugeschrieben wird. Unter ihrer linken Brust ist eine leichte Einziehung erkennbar, ein Einklemmen, was auf einen Tumor hinweist. Es löste das Rätsel, warum Margherita Luti kurz nach Fertigstellung des Gemäldes starb.
Dermatologen untersuchten Gemälde im Museum Prado in Madrid und fanden Erkrankungen wie atopische Dermatitis, Alopezie, Syphilis, Lupus und Rosea.
Hermann Haller von der Hochschule Hannover ist ein Spezialist auf dem Gebiet der Ikonodiagnose: „Zur Analyse von Krankheiten und Verletzungen auf alten Meisterwerken gehört neben der Medizin auch kulturhistorisches Wissen wie Ernährung, Arbeitsbedingungen und Kriegstechnik.“
Haller behauptet, man könne bei der „Mona Lisa“ von da Vinci eine Fettstoffwechselstörung ablesen. Vermutlich hatte sie einen zu hohen Cholesterinspiegel. Eine kleine Wölbung in ihrem linken Augenwinkel, die leicht geschwollenen Finger, Handgelenke und Wangen würden auf die Störung hinweisen.
Der „Isenheimer Altar“ von Matthias Grünewald (1512–1516) zeigt einen Mann übersät mit Geschwüren, die Unterschenkel dunkel verfärbt, im Bauch befinde sich Flüssigkeit. Berücksichtige man die historische Epoche, sei eine Mutterkornvergiftung wahrscheinlich, ein Pilz, der damals in ungereinigtem, billigem Getreide vorkam.
Seuchen
Die neueste Entdeckung der Iconodiagnose-Detektive ist eine weibliche Figur im Gemälde „Die Flut“ (1508) von Michelangelo in der Sixtinischen Kapelle im Vatikan. Die Form und Verfärbung einer Brust und die Haltung des Arms deuten auch bei dieser Frau auf einen Tumor.
Sogar die Identifikation von Personen kann durch Untersuchung von körperlichen Störungen gelingen. Aufgrund einer Ohrläppchen-Erkrankung wurde ein Gemälde von Jan van Eyck als Porträt Kardinal Albergatis identifiziert.
Neben Gemälden, Stichen und Zeichnungen werden heute auch Skulpturen und Totenmasken untersucht. Moderne Techniken ermöglichen neue, weitreichende Ergebnisse, die auf Missernten und Versorgungsprobleme verweisen könnten. Anhand von Holzfiguren verschiedener Epochen der Maya in Mittel- und Südamerika konnten Mangelernährung und Seuchen erkannt werden.
Die Ikonodiagnostik liefert damit ergänzende, bisher unbekannte Daten zu historischen Perioden verschiedener Kulturen.