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Hundert Jahre Surrealismus

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Peter Sichrovsky
©Bild: News/Ricardo Herrgott
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André Breton holte unter dem Einfluss von Sigmund Freud die Welt der Träume in die Kunst und in die Sprache.

1896 als Sohn eines Polizisten geboren musste Breton zu Beginn des Ersten Weltkrieges sein Medizinstudium ab brechen und wurde als Sanitäter verpflichtet. Die Grauen des Schlachtfelds, die Arbeit mit Verwundeten und Verstümmelten und der tägliche Tod junger Männer konnte er nicht aus seinen Erinnerungen verdrängen. Nach dem Krieg beschloss er, den Beruf des Arztes aufzugeben und sich der Philosophie und der Kunst zu widmen. Er suchte eine alternative Welt, eine Realität jenseits der erlebten Wirklichkeit, der quälenden Erlebnisse, der Logik und Rationalität des Krieges und flüchtete sich in die Welt der Fantasie und der Träume.

Er sehnte sich nach einer alternativen Form der Kunst, der Kultur und Einstellung zum Leben. Sie sollte das autoritäre System der Vernunft ablösen, das zu Krieg und Verderben führte, und er entwickelte die Idee des Surrealismus als Gegenwelt zur destruktiven Realität der Vergangenheit.

Wirklichkeit

Der Begriff Surrealismus wurde zum ersten Mal zu Beginn des 20. Jahrhunderts vom Schriftsteller Guillaume Apollinaire verwendet und leitet sich aus dem französischen „Surréalisme“ ab mit der Bedeutung „über dem Realen“. Übernommen hat den Surrealismus eine Gruppe von Künstlern, der neben Breton noch Louis Aragon, Paul Eluard, der deutsche Maler Max Ernst angehörten und zu der sich im Laufe der Zeit bekannte Künstler wie Salvador Dalí, Joan Miró, René Magritte und Luis Buñuel anschlossen.

Breton wurde der wichtigste Theoretiker des Surrealismus. 1919 gründete er die Zeitschrift „Littérature“, das erste surrealistische Magazin, experimentierte mit einer neuen Darstellung der Wirklichkeit in Bildern und Texten, die den bisherigen Vorstellungen von Tatsächlichkeit widersprachen. Er studierte die Werke Freuds, besuchte ihn 1921 in Wien und begann mit der Arbeit an dem ‚Manifest des Surrealismus‘, das er 1924 veröffentlichte „Wir leben noch unter der Herrschaft der Logik, der nach wie vor führende absolute Rationalismus erlaubt lediglich die Berücksichtigung von Fakten, die eng mit unseren Erfahrungen verknüpft sind. Der Mensch ist, wenn er nicht mehr schläft, vor allem ein Opfer seines Gedächtnisses. Ich glaube an die künftige Auflösung dieser scheinbar so gegensätzlichen Zustände von Traum und Wirklichkeit in einer Art absoluter Realität, wenn man so sagen kann: Surrealität.“

Breton verlangt nach „schlafenden Logikern und Philosophen“, verdammt den Tag als Episode des Wachseins, der ihm die Möglichkeit nimmt, seinen Traum fortzusetzen. Es sei die Gleichgültigkeit der Menschen gegenüber ihren Träumen, die sie altern ließe.

Schlaf

Bretons liebste Anekdote betraf seinen Freund, den Schriftsteller Saint-Pol-Roux, der, bevor er schlafen ging, die Angewohnheit hatte, an die Tür seines Landhauses in der Bretagne ein Schild zu hängen, auf dem zu lesen war: „Der Dichter arbeitet.“

Großen Einfluss auf Breton neben der Traumdeutung von Freud hatten die Dadaisten, eine literarische Bewegung, die 1916 in Zürich im „Cabaret Voltaire“ begann. Aus dem Bericht eines Beobachters: „Rhythmisch abgehackt wie die Salven eines Maschinengewehrs erschreckten die Stimmen maskierter Männer das Publikum. Tristan, ein eleganter junger Mann mit Monokel, holte aus den Taschen seines Anzugs einige Papierfetzen, von denen er rätselhafte Gedichte ablas. Dann traten vier schwarz gekleidete Männer auf Stelzen mit ‚Simultangedichten‘ gegeneinander an, zischten, jaulten und ratterten, bis das Publikum vor Empörung und Begeisterung tobte. Marcel Janco, in einem Kostüm aus Karton als kubistischer ‚Dada-Bischof‘ verkleidet, las ein Lautgedicht vor: Zunbada wulubu ssubudu uluw ssubudu tumba ba-umf.“

Mit absurden Texten und Geräuschkonzerten versuchte die Gruppe, aus der Normalität auszubrechen und das Publikum zu irritieren. Der Schriftsteller Kurt Schwitters zum Beispiel mit dem Gedicht ‚So So‘:

Vier Maurer saßen einst auf einem Dach.
Da sprach der erste: „Ach!“
Der zweite: „Wie ist’s möglich dann?“
Der dritte: „Dass das Dach halten kann!!!“
Der vierte: „Ist doch kein Träger dran!!!!!!“
Und mit einem Krach
Brach das Dach.

Das Publikum steigerte sich oft in einen Trance-Zustand und berauschte sich an den Kollagen von Worten und Geräuschen. Der Zufall und das Chaos wurden zum System erklärt und als kollektives Erlebnis zelebriert.

Bretons Verständnis von Surrealismus ist nicht die einer Kunstrichtung, sondern einer kulturellen Bewegung, die alle Bereiche des Lebens erreichen sollte. Träume sollten sich nach dem Schlaf fortsetzen in ihrer Unlogik und Zufälligkeit und zur Wirklichkeit werden, er nannte es die „Su per-Wirklichkeit“.

Manifest

1928 veröffentlicht Breton den Roman „Nadja“ als wichtigstes Werk der surrealistischen Literatur. Breton beschreibt, wie er durch Paris wandert und Selbstgespräche über ein surreales Dasein führt. Bis er die junge Frau Nadja trifft, die ihn zurückreißt in die Wirklichkeit, doch er scheitert an ihrem Wahnsinn, der seine Irrationalität noch übertrifft. Er trennt sich von ihr und fantasiert über eine surreale Muse.

1930 veröffentlichte er das „Zweite Manifest“, in dem er die Nähe seiner Idee zum Marxismus erklärt. Der Marxismus erkläre, wie sich die Welt, der Surrealismus, wie sich das Leben verändere. Er schloss sich der Kommunistischen Partei Frankreichs an.

1941 konnte Breton kurz vor seiner Verhaftung durch die Unterstützung der Kunstsammlerin Peggy Guggenheim nach New York fliehen. 1946 kehrte er nach Europa zurück, doch aufgrund seiner kritischen Distanz gegenüber der Sowjetunion und Stalin mied ihn die Kunstszene. Der Surrealismus geriet trotz einiger berühmter Vertreter langsam in Vergessenheit, versank in der Kunstgeschichte. 1966 starb Breton in Paris.

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