Der frühere Bundespräsident Heinz Fischer feierte seinen 85. Geburtstag. Im Interview blickt er zurück auf innenpolitische Zeiten, in denen der Ton rau, die persönlichen Beziehungen aber intakt waren. Er blickt trotz Krisen positiv auf Österreichs Zukunft. Doch er mahnt auch: Man dürfe die Demokratie nicht unbegrenzt belasten
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Sie feierten am 9. Oktober Ihren 85. Geburtstag. Sind Sie jemand, der zu solchen Anlässen zurückblickt oder Vorsätze fasst?
Geburtstage hatten in meinem Leben keine besondere Rolle. Aber der 70er, der 80er, der 85er, das sind schon Termine, an denen man ein bisschen über sein Leben, über die Familie, über die Entwicklung unserer Gesellschaft und Zivilisation nachdenkt. Das menschliche Zusammenleben ist ein Dauerinteresse von mir, nicht nur an Geburtstagen.
Ist Ihre Stimmung angesichts der aktuellen Lage besorgt?
Österreich kann in der Nachkriegszeit auf eine Erfolgsgeschichte zurückblicken. Was die Zukunft betrifft - sie ist, wie es so schön heißt, mit Ungewissheiten belastet. Ich bin ein optimistischer Mensch und lasse mich durch düstere Szenarien nicht in depressive Stimmung versetzen. Wir können mit vielen Problemen fertig werden, wenn es einen gemeinsamen Willen gibt. Wenn es darauf ankommt, wird es diesen gemeinsamen Willen geben - das hoffe ich.
Jüngere Menschen haben noch nie solche Krisen erlebt: Corona, Krieg, Inflation. Sie rufen dennoch zu Optimismus auf?
Ich rufe nicht auf, aber ich behalte meinen Glauben an die Lösbarkeit von Problemen. Natürlich waren gerade für junge Menschen die letzten Jahre sehr schwierig, aber wenn ich das mit den Schwierigkeiten im Jahr 1943 oder 1945 oder 1950 vergleiche, ist da ein ziemlicher Unterschied. Die Probleme von damals waren doch deutlich größer als das, was heute die Menschen bedrückt. Der Ausdruck "Jammern auf hohem Niveau" gefällt mir nicht sehr. Aber es ist wahr, dass wir besonders spüren, was schwierig ist, aber weniger wahrnehmen, was heute viel, viel besser ist als vor der Ära Kreisky.
Wir haben verlernt, mit Krisen umzugehen, weil wir auf eine Phase des Aufschwungs und Friedens zurückblicken?
Vielleicht haben wir es verlernt, mit schwierigen oder sehr schwierigen Situationen umzugehen. Aber man muss um ein balanciertes Bild bemüht sein, die Schwierigkeiten in eine Waagschale legen und die Verbesserungen, das aus der Geschichte Gelernte, in die andere Waagschale.
Der Bundeskanzler nimmt Anleihe bei Leopold Figl und ruft dazu auf, an dieses Land zu glauben. Hat er recht?
Jeder hat recht, der sich von Problemen nicht aus der Bahn werfen lässt, der an das Gemeinsame glaubt, und darauf vertraut, dass wir die Kapazität haben, Probleme zu lösen, auch wenn sie schwierig sind.
In einem Jahr ist Nationalratswahl. Das ist nicht eben die Zeit, in der sich Parteien auf das Gemeinsame besinnen. Die Rolle der Oppositionsparteien ist eher, die Krise in den Vordergrund zu rücken. Auch die SPÖ tut das.
Sie kennen ja den Ausspruch des früheren Bürgermeisters Michael Häupl, dass die Zeit vor Wahlen eine Zeit "fokussierter Unintelligenz" ist. Aber die Wahlkampfzeit darf kein Dauerzustand sein. Zur Demokratie gehört Wettbewerb, aber der Wettbewerb muss Spielregeln haben, die befolgt werden. Was ich Sebastian Kurz und seinem Team vorwerfe, ist, dass sie geschriebene und ungeschriebene Spielregeln zu ihren Gunsten zurechtgebogen oder überhaupt ignoriert haben. Damit wurde auch das Klima sehr stark belastet. Ob er auch Gesetze verletzt hat, müssen die Gerichte entscheiden.
Fänden Sie es gut, wenn die SPÖ einen konstruktiven Oppositionskurs fährt? Der Tonfall von Andreas Babler ist klassenkämpferisch.
Jede Partei sollte sich sorgfältig überlegen, in welcher Tonart und mit welchen Argumenten sie in den Wahlkampf geht. Allerdings kann nicht die Regierung entscheiden was ein "konstruktiver Oppositionskurs" ist. Und eines noch: Auf soziale Schieflagen hinzuweisen, ist nicht klassenkämpferisch. Allein schon deshalb nicht, weil es die ursprüngliche Klassengesellschaft gar nicht mehr gibt - wohl aber beträchtliche soziale Unausgewogenheit zwischen zu viel Luxus auf der einen Seite und zu wenig Geld für Pflege, Bildung oder Kindergärten auf der anderen Seite.
Sie sind 1962 ins Parlament gekommen, waren Klubmitarbeiter, Abgeordneter, Klubobmann, Nationalratspräsident, dazwischen Wissenschaftsminister und ab 2004 Bundespräsident. Aus heutiger Sicht scheinen das fast ruhige Jahre gewesen zu sein. Wie sehen Sie das?
Als ich ins Parlament gekommen bin, lag Österreich an einer Stacheldrahtgrenze am Eisernen Vorhang. Man musste angesichts des Kommunismus und der Roten Armee vorsichtig agieren, denn es war immer die Gefahr eines Ost-West-Konflikts gegeben. Das Ende der großen Koalition 1966 erscheint im Rückblick völlig harmlos. Doch Bruno Kreisky - er war damals noch nicht Parteichef -hatte Angst, dass das ähnliche Auswirkungen haben könnte wie 1920 nach dem Ausscheiden der Sozialdemokraten aus der Koalition. Nämlich dass sich die Parteien immer weiter voneinander entfernen und die Auseinandersetzungen immer heftiger werden. Kreisky hat damals nicht Recht behalten. Die Stabilität der Gesellschaft war eine andere als in den 1920er-Jahren. Auch später gab es Herausforderungen: der Beitritt zur Europäischen Union, die Finanzkrise und der Bankencrash zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Aber Probleme sehen im Rückspiegel, vor allem, wenn sie vernünftig gelöst wurden, immer ganz anders und viel harmloser aus, als wenn man mittendrin ist und die Zukunft Angst machen kann.
War die Gesprächskultur in der Politik damals besser?
Es hat auch früher schon in der Terminologie beinharte Auseinandersetzungen gegeben. Die ÖVP hat nicht gezögert, den Sozialdemokraten eine gefährliche Affinität zum Kommunismus zu unterstellen. Und die SPÖ hat kein schlechtes Gewissen gehabt, die ÖVP in die Nähe des Austrofaschismus vor 1938 zu rücken. Ich glaube aber, dass die menschlichen Beziehungen zwischen Politikern der Sozialdemokratie und der ÖVP trotz verbaler Kontroversen enger und belastbarer waren. Ich selbst hatte als Klubobmann Stephan Koren, Alois Mock und Josef Taus als Gegenüber. Die Parlamentsdebatten waren heftig und die Zwischenrufe nicht zimperlich. Aber ich hatte ein freundschaftliches Verhältnis zu Koren, war nach seinem Tod weiter mit seiner Witwe in Kontakt. Sixtus Lanner hat mich gebeten, nach dem Tod seiner Frau die Grabrede zu halten. Alois Mock hat mir Nachrichten seiner Frau an meine Frau ausgerichtet, wenn sie einander am Telefon nicht erreicht haben. Also hat es im menschlichen Bereich damals besser funktioniert.
Kann man sagen, dass das Ende der Großen Koalition 2017 zu Verwerfungen zwischen den Parteien geführt hat, die bis heute nachwirken?
Das würde ich bejahen. Ich will Schuld nicht einseitig verteilen. Aber als in der ÖVP Sebastian Kurz mit den bekannten Methoden die Führung übernommen hat, hat sich - wie schon vorhin erwähnt -ein anderes Politikverständnis und ein anderes Verständnis vom Wesen der politischen Auseinandersetzung ausgebreitet.
Das hat auch nach seinem Rücktritt angehalten?
Das hat sich weit verbreitet und lässt sich wahrscheinlich nicht in kurzer Zeit korrigieren, schon gar nicht in einem Vorwahljahr. Ich hoffe aber, dass sich das wieder anders entwickelt. Bedingungslose Anhänger von Kurz werden diese Dinge wahrscheinlich ausblenden, viele spüren das aber sehr wohl.
Halten Sie es dennoch für möglich, dass sich SPÖ und ÖVP noch einmal in einer Regierung wiederfinden?
Ja. Es wäre falsch und unklug, und es entspricht auch nicht meiner inneren Einstellung, diese Frage zu verneinen. Natürlich ist es möglich. Es sind ja auch Wahlresultate denkbar, wo das nahezu unvermeidlich ist. Von vornherein an die Sache heranzugehen, mit dem Gefühl, eine Koalition zwischen SPÖ und ÖVP sei undenkbar, hielte ich für falsch.
Beide Parteien müssten stark zulegen, damit sich eine solche Regierung überhaupt ausgeht. Die SPÖ tritt aber nach dem Wechsel zu Andreas Babler auf der Stelle. Worauf führen Sie das zurück? Auf Pleiten, Pech und Pannen? Auf die Themen?
Ein Sommer ist zu kurz, um ein Urteil abzugeben. Ich werde nicht alarmistisch auf Umfragen reagieren. Babler soll sich einarbeiten, er soll wachsen. Er soll seine Themen präsentieren und sich nicht nervös machen lassen. Er hat viele wichtige gute Eigenschaften.
Das Problem mangelnder Geschlossenheit hat die SPÖ aber auch unter ihm.
Aber es hat sich wesentlich reduziert. Und es wird hoffentlich noch besser werden.
Es ging bei der Vorsitzwahl auch im eine Richtungsentscheidung für die SPÖ. Soll sie versuchen, Wählerinnen und Wähler eher links zu erreichen, oder jene zurückzuholen, die heute FPÖ wählen? Welchen Kurs halten Sie für erfolgversprechend?
Man sollte nicht nach links oder rechts blinzeln, sondern einen geraden, glaubwürdigen, an den Interessen unseres Landes orientierten Kurs verfolgen. Man wird mit einer eigenständigen Politik mehr Erfolg haben, als wenn man spekuliert: Gibt es links vielleicht Leute, die kommunistisch wählen könnten und die ich mir holen kann? Aber wie viele verliere ich dann auf der anderen Seite? Auf diese Art ist man nicht überzeugend oder glaubwürdig. Eine sozialdemokratische Partei hat ihren Kurs, ihre Werte und Ziele. Dafür soll sie werben.
Erbschafts- und Reichensteuern, die 32-Stunden-Woche sind die richtigen Ziele?
Die gehören dazu, ja. Es hat früher Sechstagewochen und Kinderarbeit gegeben. Schrecklich lange Arbeitszeiten, die schrittweise geändert wurden. Das ist durch steigende Produktivität aufgefangen worden. Dieser Kurs wird sich fortsetzen. Die Arbeitszeit wird sich weiter dem technischen und technologischen Fortschritt anpassen. Das muss ja nicht mit einem Schritt verwirklicht werden, sondern unter Bedachtnahme auf den technologischen Fortschritt und Produktivitätssteigerungen.
Sie waren ab 1983 Wissenschaftsminister. Heute herrscht in Österreich eine ausgeprägte Wissenschaftsskepsis. Wieso ist das so?
Man kann Wissenschaft definieren als das methodische Streben nach Erkenntnissen über kausale Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten in Natur und Gesellschaft. Wissenschaft kann helfen, das Leben zu verbessern und Leid zu verringern. Wenn Sie Wissenschaft so definieren, schaut das Ergebnis sicher positiv aus. Die Pandemie hat die Wahrnehmung von Wissenschaft aber weitgehend auf Medizin reduziert, und andere Bereiche - von den Sozialwissenschaften bis zur Technik - wurden beiseite gedrängt. Diese Pandemie war etwas Bedrückendes, sie hat Menschenleben gefordert. Und die Medizin konnte nicht gleich alles perfekt beantwortet. Das hat Unbehagen, Skepsis und sogar Aggression erzeugt, ist aber ungerecht.
Sie hat aber auch gezeigt, was Wissenschaft bedeutet: die eigenen Thesen anzuzweifeln, bereit zu sein, sie zu verwerfen.
Das ist richtig. Wissenschaft ist nicht allwissend und auch nicht fehlerfrei. Sie muss sogar selbst nach Fehlern in ihren Erkenntnissen suchen. Aber eine Pandemie ist eben eine Ausnahmesituation. Es herrscht großer Zeitdruck. Viele Menschen waren ungeduldig und unzufrieden mit der Art, wie die Wissenschaft an Probleme herangeht. Aber ich glaube nicht, dass man sagen kann, dass die Österreicherinnen und Österreicher im Unterschied zu anderen europäischen Völkern Wissenschaftsfeinde sind.
Die Pandemie rückt als Thema in den Hintergrund, die Klimakrise bleibt. Und da zweifeln Politiker, vor allem in Wahlkampfzeiten, öffentlich an den Ergebnissen der Klimawissenschaft.
Ich kenne keinen ernst zu nehmenden Politiker, der sagt, das Klimaproblem interessiert mich nicht. Es geht aber in der Klimapolitik in einem sehr hohen Maß auch um Interessengegensätze. Ich verstehe, dass man sagt, die Versiegelung von Böden ist für das Klima schädlich. Andererseits gibt es Leute, die sagen, irgendwo müssen wir auch Straßen haben. Wenn man dann sagt, man muss den privaten Verkehr reduzieren, dann wissen wir, wie kontroversiell das ist. Die Klimafrage ist ein schmerzhafter Prozess, um Lösungen durchzusetzen, von denen man nicht sagen kann, sie hätten keinerlei Nachteile. Das ist eine schwierige Aufgabe.
... für die in Wahlkampfzeiten oft der Mut fehlt.
Das Jahr vor einer Wahl ist eine sensible Phase, wo politische Taktik vorherrschend ist. Aber das, was getan werden muss, sollten wir gemeinsam durchtragen, auch wenn es schmerzhaft und unpopulär ist.
Ihre letzte Station in der aktiven Politik war das Amt des Bundespräsidenten. Sie haben nachträglich Kritik geerntet, weil Sie Wladimir Putin empfangen haben. Wie sehen Sie das heute?
Wenn es keine substanziellere Kritik gibt als diesen Punkt, dann kann ich sehr zufrieden sein. Warum hätte ein österreichischer Bundespräsident, der in voller Übereinstimmung mit der Bundesregierung und auch im Kontakt mit anderen EU-Staaten bemüht war, die für uns wichtigen Beziehungen zu Russland möglichst reibungslos zu gestalten und Probleme aus dem Weg zu räumen, nicht Putin empfangen sollen?
Aber war das nach der Annexion der Krim noch angebracht?
Meiner Meinung nach schon. Ich habe beim nachfolgenden Besuch Putins in Wien dieses Thema natürlich angeschnitten. Und es war bei Putin so, dass er auch bei kritischen Formulierungen und Anmerkungen nicht wehleidig war. Vielleicht ist sogar zu wenig mit Putin geredet worden.
Wie sehen Sie ihn heute? Hat das, was man über ihn weiß, mit jener Person, die Sie kennengelernt haben, noch irgendetwas zu tun?
Da hat sich schon etwas verändert. Putin schien seine Angst, dass die Nato während seiner Präsidentschaft immer näher an die russischen Grenzen heranrückt, sehr zu beschäftigen. Das hat wahrscheinlich dazu beigetragen, dass er die Situation falsch eingeschätzt und einen schicksalsschweren Fehler begangen hat. Einen politischen Fehler, einen strategischen Fehler und auch einen moralischen Fehler. Der Putin von heute ist ein anderer, und er ist der Repräsentant eines anderen Landes. Dass Putin einen Krieg gegen die benachbarte Ukraine beginnt -die Mitglied der Vereinten Nationen und ein selbstständiger Staat ist, dem diese Selbstständigkeit auch von Russland garantiert wurde, als sie die Atomwaffen abgeliefert haben -, das habe ich mir nicht gedacht. Da habe ich ihn überschätzt. Ich dachte, er sei klüger. Und jetzt steckt er in der Zwangsjacke der Kriegslogik.
Möchten Sie ihn vor einem Kriegsverbrechertribunal sehen?
Ich fände es wichtig, wenn der Krieg in einer vernünftigen Weise beendet werden kann. In einer Weise, in der die Sicherheit der Ukraine auf soliden Beinen steht, aber auch die Voraussetzung geschaffen wird, dass auf mittlere oder längere Sicht auch Europa wieder mit Russland vernünftige Beziehungen haben kann. Das wünsche ich mir, und ich hoffe, dass das realisierbar ist und der Krieg nicht in eine noch größere Katastrophe führt.
Zurück nach Österreich: Zu den Pflichten des Bundespräsidenten gehört es, die Regierungsbildung zu beauftragen. Er hat dabei laut Verfassung freie Hand, wird aber vernünftigerweise jemanden beauftragen, der eine Mehrheit im Parlament hat. In den Meinungsumfragen führt die FPÖ. Bundespräsident Van der Bellen hat erklärt, er wolle Herbert Kickl nicht beauftragen. Wie kann es weitergehen?
Ich bin sicher, dass Bundespräsident Van der Bellen - in einer Situation, die wir ja noch nicht kennen, schließlich gibt es das Wahlergebnis noch nicht - sehr verantwortungsvoll und verfassungskonform vorgehen wird. Sie haben recht, es steht nirgends in der Verfassung, dass der Vorsitzende der mandatsstärksten Partei einen Rechtsanspruch auf das Amt des Bundeskanzlers hat. Die FPÖ muss das wissen, weil sie ja selbst mitgespielt hat, als im Jahr 2000 der Obmann der drittstärksten Partei - das war damals die ÖVP - Bundeskanzler wurde.
Die FPÖ unter Jörg Haider hat im Jahr 2000 Wolfgang Schüssel zum Kanzler gemacht. Thomas Klestil hatte allerdings SPÖ-Chef Viktor Klima mit der Regierungsbildung beauftragt, also den Chef der stimmenstärksten Partei.
Das ist Usus, aber keine verfassungsrechtlich zwingende Vorgangsweise. Entscheidend ist, dass es im Nationalrat keine Mehrheit gegen den Bundeskanzler gibt, die ein Misstrauensvotum beschließt. Denn dann muss der Bundeskanzler vom Bundespräsidenten seines Amts enthoben werden.
Warum ist die FPÖ derzeit so stark in den Umfragen?
Das hängt mit den Dingen zusammen, die wir besprochen haben: die internationale Lage, die Pandemie, die Sorgen und Probleme der Inflation. Eine Partei, die so wie die FPÖ agiert, die vor allem die Angst ausnützt, hat da gewisse Vorteile. Ich glaube, dass man zum Beispiel bei der Flüchtlingskrise bestimmte Grundsätze dennoch nicht über Bord werfen darf. Das Asylrecht und vieles, was damit zusammenhängt, stellt ein Wertegerüst dar, das nach wie vor Beachtung finden muss. Aber eine Partei, der nicht sehr wichtig ist, ob Menschen im Mittelmeer ertrinken, die diesen Menschen jegliche Anteilnahme versagt und sie als bloße Zahlen sieht, die marschiert da mit leichterem Gepäck.
Warum ist es so schwierig, ein Bewusstsein für diese gemeinsamen Werte zu schaffen?
Ehrlich gesagt: Das ist eine Frage, die ich mir auch stelle. Es gibt unterschiedliche Positionen zu den Menschenrechten. Und es gibt die berühmte Frage: Inwieweit heiligt der Zweck die Mittel? Was darf man tun, das den eigenen Zielen dient, aber zulasten anderer geht? Das sind Fragen, die sich in der Politik immer stellen, sich aber heute noch mehr in den Vordergrund drängen. Da hat die Europäische Union eine große Verantwortung. Die nächsten Wahlen zum Europäischen Parlament betrachte ich als weichenstellend auf diesem Gebiet.
Die EU-Staaten diskutieren unterdessen, ob man Flüchtlinge, auch Kinder, an den Außengrenzen in haftähnlichen Einrichtungen anhalten soll. Wie steht es da um die Werte?
Die beste Lösung in dieser Frage ist offenbar noch nicht gefunden. Es gibt viele Vorschläge, aber es ist nicht klar, wie die praktische Umsetzung mit den Grundwerten der Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen und der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar ist und auch den Menschen im Land erklärbar ist. Die bisherigen Antworten sind nur partiell überzeugend. Da spielen politische, wirtschaftliche, soziale, emotionale, kulturelle Divergenzen eine Rolle. Das ist eine große Herausforderung für die Politik. In Europa ist sicher viel guter Wille vorhanden. Aber guter Wille genügt nicht, wenn ein Problem so gewichtig ist und die Querschüsse rücksichtslos erfolgen.
Sie haben Ihr Berufsleben in den Institutionen der Demokratie verbracht. Heute misstrauen laut Umfragen immer mehr Menschen diesen Institutionen. Ist damit auch die Demokratie in Gefahr?
Es ist evident, dass Demokratie besser ist als Diktatur. Unsere Demokratie ist stabil und belastbar. Aber sie ist nicht unbegrenzt belastbar und nicht unzerstörbar. Wir können der Demokratie nicht alles zumuten und sie gedankenlos und rücksichtslos belasten. Irgendwann wird es zu viel. Aber ich bin nicht in alarmistischer Stimmung. Eine solide Mehrheit in Österreich und Europa weiß, dass die Demokratie der Diktatur, der Ausübung von Gewalt und dem Verzicht auf Menschenrechte vorzuziehen ist. Auch wenn es Einzelfälle an undemokratischen Verhalten gibt, gilt doch der Gedanke: Alle Menschen sind gleich an Rechten und Würde geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und haben einander im Geiste der Brüderlichkeit zu begegnen. Das ist Artikel I der Menschenrechtsdeklaration. Das gehört zur Demokratie. Das hat in Europa für eine große und solide Mehrheit Gültigkeit. Es muss eine solide Allianz der Anhänger der Demokratie, des Rechtstaats und einer offenen, pluralistischen Gesellschaft geben.
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 40/2023 erschienen.
Steckbrief
Heinz Fischer
Der gebürtige Grazer entstammt einer sozialdemokratisch geprägten Familie. Sein Vater, Rudolf Fischer, war 1954-56 Staatssekretär im Handelsministerium. Fischer studierte Rechtswissenschaften, war ab 1962 parlamentarischer Mitarbeiter und wurde 1971 in den Nationalrat gewählt. Er war Wissenschaftsminister, SPÖ-Klubobmann, Nationalratspräsident und von 2004 bis 2016 Bundespräsident.