Ein verfallenes Gebäude im Wienerwald und seine dunkle Geschichte: Im Lebensborn-Heim in Feichtenbach wurden in der Nazi-Zeit mehr als 1.300 Kinder geboren. Das Ludwig Boltzmann Institut für Kriegsfolgenforschung ist auf Spurensuche.
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Versteckt am Rande von Feichtenbach liegt ein verfallenes Gebäude. Fünf Stockwerke hoch, einst in eleganter Jahrhundertwende-Archiktur, später zum unansehnlichen Zweckbau umgebaut. Die Fenster sind eingeschlagen, das Gelände ist gesperrt, Betreten verboten. Wer weitergeht, muss mit einer Klage wegen Besitzstörung rechnen. Dem Cellisten Valentin Erben ist das passiert (siehe weiter unten). Dabei wollte er nur den Ort besuchen, an dem er geboren ist, den Ort, der ein Lebensborn-Heim der Nationalsozialisten war.
Ein „Zauberberg“ im Wienerwald
„Man hat hier 120 Jahre österreichische Zeitgeschichte wie unter einem Brennglas“, sagt Barbara Stelzl-Marx, Leiterin des Ludwig Boltzmann Instituts für Kriegsfolgenforschung und Professorin für Zeitgeschichte an der Universität Graz. Mit den Mitarbeitern des Instituts erforscht sie diese Geschichte, seit sie erfahren hat, dass es am Standesamt von Pernitz Dokumente zu den hier geborenen Kindern gibt.
Ursprünglich war hier ein „Zauberberg“ im Wienerwald, ein elegantes Sanatorium, in dem Franz Kafka kurz vor seinem Tod und der einstmalige Bundeskanzler Ignaz Seipel, der hier starb, behandelt wurden. Zwei jüdische Ärzte, Hugo Kraus und Arthur Baer, hatten die Lungenheilanstalt 1903 gegründet. Wohlhabende Patienten kamen, das Haus war stets ausgelastet.
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120 Jahre Geschichte: Zwei jüdische Ärzte gründeten 1903 das Sanatorium Wienerwald, 1938 wurde ihnen das Gebäude von den Nazis geraubt
© ÖNB/PostkarteIm April 1938 wurde das Sanatorium von SS und Gestapo beschlagnahmt. Kraus versuchte, sich während dieser Aktion umzubringen, und starb wenige Tage später. Baer wurde verhaftet und gezwungen, das nun „arisierte“ Gebäude dem Lebensborn zu überschreiben.
Feichtenbach war eines der größten der mehr als 20 Lebensborn-Heime im Dritten Reich, erklärt Stelzl-Marx. Die Lebensborn-Bewegung wurde von Heinrich Himmler, dem Reichsführer SS, gegründet. Die nationalsozialistische Ideologie hat in diesen Heimen den Alltag der Frauen bestimmt, angefangen von Julfeiern bis zu Namensweihen statt Taufen. „Himmler hat sich detailliert berichten lassen: vom Stillverhalten der Mütter bis hin zur Frage, ob die Kartoffeln mit oder ohne Schale gekocht werden. Im Fokus stand diese Idee des ,guten deutschen Blutes‘. Die Nachkommen, die hier zur Welt kamen, waren der ,Adel der Zukunft‘, der sich möglichst gut entwickeln sollte“, erklärt die Zeithistorikerin.
Demzufolge brachten auch nur bestimmte Frauen ihre Kinder in Lebensborn-Heimen zur Welt. „Ursprünglich waren diese für ledige Mütter gedacht, die ihr Kind anonym zur Welt bringen konnten, wenn es vorgegebenen Kriterien entsprach.“ Sprich: Ein Arier-Nachweis musste da sein. Bisweilen handelte es sich dabei um außereheliche Beziehungen von in Ostösterreich stationierten SS-Männern. „Später kamen zunehmend auch verheiratete Mütter, deren Männer bei der Polizei oder SS waren. Sie haben diese Geburtsheime vor allem auch aus ideologischer Überzeugung in Anspruch genommen“, sagt Stelzl-Marx.
Die Akten sind nur lückenhaft vorhanden, aber man könne schätzen, dass mehr als 1.300 Kinder im Lebensborn-Heim in Feichtenbach zur Welt gekommen sind, sagt Lukas Schretter vom Ludwig Boltzmann Institut für Kriegsfolgenforschung. Während verheiratete Frauen nur wenige Tage im Heim blieben, konnte der Aufenthalt lediger Mütter Monate dauern. „In seltenen Fällen, wenn eine Frau mit dem Kind nicht in ihr früheres Umfeld zurückkehren konnte, wurde sie als Angestellte aufgenommen und das Kind im angebauten Kindergarten untergebracht“, erklärt er. Die Kosten wurden von den Familien bzw. den Vätern getragen, und wenn das nicht möglich war, von der „Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt“.
„Für einige der dort Geborenen ist das schon ein zentraler Aspekt ihrer Familiengeschichte und auch der Auseinandersetzung mit ihren Eltern“
Schretter und sein Team haben für das Forschungsprojekt Personen interviewt, die im Lebensborn-Heim in Feichtenbach geboren wurden. Es gab einen Medienaufruf, sich zu melden. Manchen wurde erst dadurch so richtig klar, dass sie an einem besonderen Ort zur Welt kamen. Hat ihr Geburtsort ihr Leben geprägt? „Für einige der dort Geborenen ist das schon ein zentraler Aspekt ihrer Familiengeschichte und auch der Auseinandersetzung mit den Eltern“, sagt der Historiker. „Bei einigen hat man auch gemerkt, dass sie sich bis zu unserem Aufruf, sich zu melden, noch gar nicht damit beschäftigt hatten.“
Der österreichische Pragmatismus
Was den Umgang mit der Vergangenheit dieses Gebäudes betrifft, war Nachkriegs-Österreich wie so oft pragmatisch. Das Haus am Waldrand wechselte Besitzer und Bestimmung. Gleich nach dem Krieg war es ein Erholungsheim für unterernährte Kinder. 1950 kaufte der ÖGB das Gebäude, ließ es umbauen und nutzte es als Urlaubsheim für Metall- und Bergarbeiter. Als das Gewerkschaftshotel unrentabel wurde, folgte der Verkauf. Die Wiener Gebietskrankenkasse betrieb hier ab 1990 ein Erholungs- und Rehabilitationszentrum, das sich ebenfalls bald nicht mehr rechnete. Ein Hotel bestand danach nur wenige Monate.
Seit 2002 ist das Haus ungenutzt – wenn man von einem ohne Genehmigung betriebenen „Tierheim“ absieht. Nach und nach zerstörten Vandalen, was noch da ist. Derzeit ist es im Besitz einer deutschen Holding-Gesellschaft, es gibt jedoch kein Nutzungskonzept. Zwei SPÖ-Nationalratsabgeordnete ventilierten während der Coronapandemie die Idee, ein Zentrum für die Behandlung von Long-Covid-Patienten zu errichten.
Was wäre der richtige Umgang mit einem Haus mit solcher Geschichte? Abreißen, stehen lassen, mittels Interventionen vor Ort zum Nachdenken anregen? Barbara Stelzl-Marx arbeitet mit der Bundesimmobilien-Gesellschaft auch am Forschungsprojekt „Kontaminiertes Erbe?“, bei dem es darum geht, die Geschichte von Gebäuden mit NS-Vergangenheit zu erforschen. „Nur weil man etwas nicht sieht, heißt es nicht, dass es nicht auch etwas mit einem macht“, sagt sie. „Die Spuren der Vergangenheit sind subkutan vorhanden, eingebrannt in die Biografien, die Landschaft und – wie im Fall des ehemaligen Lebensbornheimes – auch in die Gebäude.“
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Valentin Erben war eines der letzten Kinder, die im Lebensborn-Heim geboren wurden. Als er ein kleiner Bub war, zeigte ihm seine Mutter den Geburtsort. Über dessen Geschichte sprach man nicht.
Lebensgeschichte
„Das ist wie ein Rucksack, der einem Kind umgehängt wird“
Der Cellist Valentin Erben, 79, ist eines der letzten Kinder, die im Lebensbornheim in Feichtenbach geboren wurde. Seine Eltern, überzeugte Nationalsozialisten, haben ihm nie von der Geschichte seines Geburtsorts und ihrer eigenen Haltung in der Nazi-Zeit erzählt
„Ich war fünf oder sieben Jahre alt, als mich meine Mutter hingeführt und gesagt hat: ,Hier bist du geboren worden.‘ Das war alles, was sie gesagt hat“, erinnert sich Valentin Erben. Der Ort, von dem er spricht, ist das Lebensborn-Heim in Feichtenbach bei Pernitz im Wienerwald. Die Mutter stammte aus dem nahegelegenen Guttenstein. Ihr Vater war dort Gemeindearzt. „Sie war Anfang 1945 schwanger mit mir. Mein Vater hat als Diplomingenieur in Berlin gearbeitet. Aber die Mutter ist von dort weg, als es wegen der Bombardierung Berlins zu unsicher wurde. Sie ging zu ihrem Vater nach Guttenstein.“ Der war – so wie auch seine Tochter und sein Schwiegersohn – Nationalsozialist. „Die medizinische Versorgung am Land war damals katastrophal. Darum hat er meiner Mutter durch seine Beziehungen ein Platz im Feichtenbach verschafft.“ Valentin Erben ist eines der letzten Kinder, die in diesem Haus geboren wurden.
Was es mit seinem Geburtsort auf sich hat, darüber haben die Eltern nie mit ihm gesprochen. „So geht es ja vielen in meiner Generation, dass die Eltern später überfordert waren, darüber zu reden. Ich kreide es ihnen nicht an. Aber es wäre hilfreich für unsere ganze Generation gewesen, wenn unsere Eltern mit uns gesprochen hätten. Wir haben daraus gelernt, dass man so mit seinen Kindern nicht umgehen soll. Das ist wie ein Rucksack, der dem Kind umgehängt wird. Kinder spüren ja oft, was nicht gesagt wird.“ Er habe mitbekommen, dass seine älteren Brüder später mit dem Vater, der abgeblockt habe, diskutiert hätten. „Aber ich bin nicht neugierig, ich scheue Konflikte, ich habe eher alles getan, um meinen Eltern Freude zu machen. Also habe ich keine Fragen gestellt.“
Erst nachdem Tod der Eltern beschäftigt sich Erben mit seiner Geschichte und besuchte Feichtenbach, diesen „unheimlichen Ort“, der für ihn auch „ein Symbol für alles ist, was im Dritten Reich passiert ist“. Das Gebäude war da schon verfallen. Erben sah den Kreißsaal, wo er zur Welt kam, „da waren Hakenkreuzschmierereien und Parolen. Das wurde als Kultstätte von Neonazis benutzt“. Vor wenigen Jahren wollte Erben seiner Familie diesen Ort zeigen. „Das war an einem Ostermontag. Da sind einige Limousinen vor dem Haus gestanden. Das war mir irgendwie unheimlich, und wir haben umgedreht. Erst am nächsten Tag habe ich im Kalender gesehen, dass das am 20. April war – dem Geburtstag Adolf Hitlers.“
Was mit dem Haus, in dem er geboren wurde, geschehen soll? „Ich denke, hier sollte ein Park sein, in dem eine Gedenktafel oder eine Skulptur an den Naziterror und diese unheilvolle Zeit erinnert.“


Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr.06/2025 erschienen.