Fantastische Stimmung herrscht in Katar offenbar schon vor der WM: In den Straßen von Doha feiern deutsche, englische und brasilianische Fußballfans, sie trommeln, tanzen und schwingen Fahnen ihrer Teams. Die Organisatoren des umstrittenen Events präsentieren Bilder und Videos dieser enthusiastischen Besucher stolz auf Social-Media-Kanälen. Doch irgendetwas war verdächtig: Weshalb sehen einander die Jubelnden aus unterschiedlichen Nationen alle ähnlich, weshalb wirkt der Fanaufmarsch wie eine Inszenierung? Weil die sogenannten Fans gekaufte Darsteller sind, wie englische Medien vermuten. Offensichtlich wurde Gastarbeiter dazu verpflichtet, sich als frenetische Besucher zu verkleiden, um die Jubelstimmung zu beweisen.
Die Veranstalter sind es eben gewohnt, dass man im internationalen Fußballbusiness mit Geld alles kaufen kann. Nur wegen dieser Großzügigkeit findet die WM überhaupt in dem Emirat am Persischen Golf statt. Das durch Gas-und Ölgeschäfte reich gewordene Land, in dem 90 Prozent der Einwohner Gastarbeiter sind und Menschenrechte eine untergeordnete Rolle spielen, will sich mit der Austragung als seriöser Partner etablieren. Es geht um internationale Beziehungen und Geschäfte, um das Image des Landes und um das Bemühen, in der Region die Nummer eins zu werden und unter anderem Dubai zu überflügeln.
Stimmungsmacher
Gute Stimmung auf den Tribünen ergibt sich bei Weltmeisterschaften meist von selbst. Katar aber will sichergehen, dass Imageprobleme, Alkoholverbot und drohende Reibereien zwischen Anhängern und Behörden nicht das Jubeln und Feiern beeinträchtigen. Deshalb wurden nicht nur Laiendarsteller verpflichtet, sich als Fans aufzuspielen, sondern sogar "echte" Fans aus verschiedenen Ländern auf großzügige Weise eingeladen, sich während der WM um Stimmungsmache zu kümmern. Wie niederländische und britische Medien berichten, wurden jeweils mehrere Dutzende solcher Anhänger mit Flug, Unterkunft, Eintrittskarten und Tagesverpflegung ausgestattet. Im Gegenzug sollen sie für authentische Gesänge im Stadion sorgen und sich darum kümmern, dass es keine negativen Kommentare auf Facebook, Twitter und Co. gibt -und wenn doch, sollten sie diese umgehend melden. Diese amateurhaften Spionagetätigkeiten kosten Katar weniger als jene echter Spione: Laut dem Schweizer Fernsehen, das sich auf Unterlagen der Schweizer Justiz beruft, wurden während und nach der WM-Vergabe ehemalige CIA-Agenten damit beauftragt, potenzielle Störenfriede wie kritische Fußballfunktionäre im Auge zu behalten.
200 Milliarden Dollar soll die WM in Katar insgesamt laut Schätzungen kosten. Sie wäre damit teurer als alle bisherigen Weltmeisterschaften zusammen.
Warum Katar?
Das Gruselmärchen aus Tausendundeiner Nacht hatte im Dezember 2010 begonnen, als sich das FIFA-Exekutivkomitee für Katar entschieden hatte - für ein Land, das davor mit Fußball so gut wie nichts zu tun hatte und in dem es keine brauchbaren Stadien gab. Das Entsetzen war groß. Wie konnte Katar überhaupt in Erwägung gezogen werden? Im Vorfeld hatte sich etwa der chilenische Funktionär Harold Mayne-Nicholls als Chef der Evaluierungskommission der FIFA klar gegen eine WM in Katar ausgesprochen - später wurde er mit erfundenen Vorwürfen kaltgestellt. Korruptionsvorwürfe wurden bald nach der Wahl öffentlich, unter anderem wurde von englischen Zeitungen aufgedeckt, dass die Vertreter einiger Länder ihre Stimmen zum Verkauf angeboten hatten. Einige von ihnen wurden zwar disqualifiziert, andere könnten ihre Zustimmung doch verkauft haben. Eine FIFA-interne Untersuchung kam später zu dem Schluss, dass keine Stimmen gekauft wurden, musste aber zugeben, dass es "problematisches Verhalten Einzelner" gegeben habe. Das FBI hat die FIFA seit 2010 im Visier, auch in der Schweiz kam es zu etlichen Untersuchungen. Elf der 22 Mitglieder des damaligen Exekutivkomitees wurden seither aus unterschiedlichen Gründen suspendiert oder angeklagt.
Der damalige FIFA-Präsident Sepp Blatter, der vom Saulus zum Paulus mutieren möchte, hat erst vorige Woche die Vergabe an Katar als Fehler bezeichnet. "Natürlich ging es um Geld", stellte er klar. Nicht nur das: Wie heute bekannt ist, standen neben finanziellen auch politische Gründe hinter der Wahl Katars: So dürfte der damalige französische Präsident Nicolas Sarkozy seinen Einfluss geltend gemacht haben, um die zögernden europäischen Verbände zu bekehren -nicht nur für Frankreich ist Katar, aus dem rund ein Drittel der weltweiten Flüssiggasmenge kommt, ein wichtiger Partner. Zudem besteht der Verdacht, dass es um Rüstungsgeschäfte ging. Und viele europäische Unternehmen profitierten in den vergangenen Jahren von den Bauprojekten.
Ausgebeutete Arbeiter
Von Beginn an war klar, dass die Menschenrechtslage in dem Land durch die WM keinesfalls verbessert werden konnte -im Gegenteil. Die Situation in Katar sei aus diesem Grund anders als bei Sportveranstaltungen in Russland oder China, erklärt Sandra Iyke von Amnesty International, im Gespräch mit News: "Die Vergabe der WM an Katar hat selbst zu weiteren Menschenrechtsverletzungen geführt - und das war schon zum Zeitpunkt der Vergabe klar. Man wusste, dass die riesigen Infrastrukturprojekte den massiven Einsatz solcher Arbeitskräfte erfordern würden." Tatsächlich mussten nicht nur sieben von acht Stadien neu gebaut werden, auch Unterkünfte, Transportmittel und vieles mehr sind notwendig. Wie ein Land mit nicht einmal drei Millionen Einwohnern acht riesige Stadien nach der WM nutzen will, ist ungewiss. Angesichts der Unverfrorenheit europäischer Funktionäre wäre es denkbar, dass in naher Zukunft Endspiele europäischer Klubbewerbe in den Wüstenstaat geschickt werden.
Rund 200 Milliarden Dollar soll Katar für die WM ausgegeben haben. Und auch sonst war man nicht zimperlich: Tausende Arbeiter sollen während der hektischen Bauarbeiten gestorben sein. Inoffi ziellen Schätzungen zufolge könnten es mehr als 6.000 gewesen sein, bisweilen ist sogar von 15.000 die Rede. Die meisten der Arbeiter auf den unzähligen Baustellen kommen aus Bangladesch, Pakistan, Nepal und Sri Lanka, außerdem wurden laut Amnesty Zwangsarbeiter eingesetzt. Aber bewirkt die WM nicht einen Wandel? Schließlich sind nun die Augen der Weltöffentlichkeit dorthin gerichtet. "Es hat in Katar zwar Reformen gegeben, zumindest auf dem Papier -doch diese gab es nicht wegen der WM, sondern wegen der massiven öffentlichen Reaktion auf die Zustände", sagt Sandra Iyke. Tatsächlich gibt es im Vorfeld der WM scharfe Kritik aus vielen Ländern. Iyke hat immerhin den Eindruck, dass die Lage etwas besser geworden ist: "Im Vergleich zu anderen Ländern in der Region hat Katar heute fortschrittlichere Arbeitsrechte zum Schutz von Arbeitnehmern." Zu bedenken ist allerdings, dass 95 Prozent aller Arbeitskräfte in Katar Migranten sind. "Spricht man über deren Lage, darf man nicht nur an die WM-Baustellen denken, sondern auch an Personen in der Gastronomie, an Taxifahrer oder Hausangestellte." Die Proteste hätten etwas bewirkt, meint die Amnesty-Expertin. "Nun ist es wichtig, auch nach der WM weiterzumachen -das haben wir uns bereits vorgenommen."
FIFA-Präsident Gianni Infantino fürchtet sich jedenfalls vor solchen Protesten, die das heile Bild des vorgeblich völkerverbindenden Fests stören könnten, das der Fußballverband seinen Partnern und Geldgebern als Grundlage für Werbe-und Politbotschaften präsentiert. Infantino hat in einem Brief an die WM-Teilnehmernationen flehentlich gefordert, man möge sich doch auf den Sport konzentrieren. Abgesehen davon besteht die Befürchtung, dass Besucher vor Ort Probleme mit der Scharia, dem islamischen Religionsgesetz, bekommen könnten -offi zielle Stellen hatten Fans davor gewarnt, Regenbogenfahnen zu schwingen oder einander in der Öffentlichkeit zu küssen. Dass der WM-Botschafter von Katar im deutschen Fernsehen Homosexualität kürzlich als "geistigen Schaden" bezeichnete, passt dazu.
Apropos Infantino: Der FIFA-Chef selbst genießt laut Schweizer Medienberichten seit vorigem Jahr die Gastfreundschaft von Katar und hat seinen Wohnsitz dorthin verlegt. Daher weiß er selbst am besten, dass die Situation in dem Land keineswegs so sein kann, wie böse Medien und aufdringliche Menschenrechtsorganisationen behaupten. Die WM werde "in die Geschichte der FIFA eingehen", prognostiziert Infantino. Das stimmt mit Sicherheit - wenn vielleicht nicht so, wie er sich das vorstellt.
Diese Geschichte erschien ursprünglich im News-Magazin Nr. 46/2022.