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Freiheit - nicht mehr, nicht weniger

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Kathrin Gulnerits

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Mutige Menschen im Iran riskieren gerade alles. Sie rufen "Freiheit" und "Wir sind das Volk". So wie schon einmal im Herbst 1989 junge Menschen genau das gerufen haben.

Bis etwa Mittag war der 9. Oktober 1989 für mich ein normaler Schultag. Doch er endete abrupt und weit vor dem eigentlichen Schulschluss. Wir sollten heimgehen und jedenfalls keinen Umweg über die Innenstadt nehmen. Gerüchte machten die Runde. Von Blutkonserven war die Rede. Von Ärzten in Alarmbereitschaft und einem Großaufgebot an bewaffneten Sicherheitskräften. Auch das Wort Schießbefehl fiel. An diesem Montagabend vor 33 Jahren legte sich eine Stille über Leipzig. Der Blick aus meinem Kinderzimmerfenster war beklemmend. Keine Autos. Keine Menschen. Plötzlich rollten sie die Straße hinunter, die Wasserwerfer und die Einsatzfahrzeuge mit den Kampftruppen. Ihr Ziel: die Nikolaikirche in der Innenstadt, der angrenzende Karl-Marx-Platz, die Seitenstraßen rund um den Hauptbahnhof und das Kaufhaus ohne Waren in den Regalen. Entlang dieses Ringes rund um die Altstadt fanden seit einigen Montagen Demonstrationen statt. An diesem 9. Oktober 1989 sind es 70.000. Sie rufen: "Keine Gewalt", "Schließt euch an!","Auf die Straße" und "Wir sind das Volk". Es sind junge, mutige Menschen, die ihre Wut und Ratlosigkeit, ihre Verzweiflung und den Wunsch nach Veränderung auf die Straße bringen und ihre Angst vor Repressionen und den gezückten Schlagstöcken besiegen. Noch einen Tag zuvor wurde in Ostberlin brutal auf die dort Demonstrierenden eingeprügelt. Es gab mehr als tausend Festnahmen.

Wackelige Videoaufnahmen dieses Demonstrationszuges in Leipzig, heimlich aufgenommen vom Dach einer Kirche, finden den Weg in westliche Medien. Ein Schlüsselmoment in der Geschichte. In meiner Geschichte. Es fällt kein Schuss. Die friedliche Revolution nimmt ihren Lauf. Eine Woche später versammeln sich in Leipzig 120.000 Demonstranten, Ende Oktober sind es 300.000. Es folgte der Rücktritt des Staatsratschefs, der Regierung, schließlich die Maueröffnung. Weltgeschichte im Stakkato.

'Das geht mich nichts an' ist die verständliche, aber falsche Antwort

Zum ersten Mal seit Jahrzehnten wankt auch die Diktatur im Iran. Es gärt, und trotz Internetblockade finden auch hier Videos den Weg in die Weltöffentlichkeit. Mutige junge Menschen schwenken ihre Kopftücher durch die Luft, Bilder des religiösen Führers des Landes liegen zerrissen auf dem Boden. Sie rufen: "Freiheit!" und auch "Wir sind das Volk". Noch vor Kurzem wäre all das undenkbar gewesen. 70 Prozent der Menschen im Iran sind unter 30. Sie haben jetzt das Zepter in die Hand genommen. Sie riskieren gerade alles. Das Regime antwortet mit demonstrativer Gelassenheit und ungehemmter, brutaler Gewalt. Es gibt Tote, Hunderte Verletzte und Tausende Verhaftungen. Längst geht es nicht mehr nur um Frauenrechte. Das Verlangen nach politischen Reformen, nach einem anderen, besseren Iran ist groß.

Plötzlich bekommt das, was in Ostdeutschland vor 33 Jahren passiert ist, mit dem aktuellen Blick auf die Welt im Herbst 2022, wo im Iran und in der Ukraine um Freiheit gekämpft wird, eine brennende Aktualität - und reicht trotzdem manchmal nur (noch) für eine Kurzmeldung im Nachrichtenblock. Wir müssen hinschauen. Zu denken: "Das geht mich nichts an", und ein schnell dahingeplappertes "Bitte nicht noch ein Problem" ist die verständliche, aber falsche Antwort. Und ja, Dankbarkeit für das eigene Leben, für das Glück in der Geburtslotterie, ist auch ein guter Anfang.

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