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Dennoch kann die Lektüre nachdrücklich empfohlen werden, und auch der US-Präsident würde aus ihm erfahren, wie bitter ein Kulturaustausch zwischen den USA und Grönland schon einmal schief gegangen ist: Von den Inuit, die 1897 von Peary als bestaunte Schauobjekte nach New York gebracht wurden, überlebte nur der junge Minik. Dem "Wilden", an okkulte Naturreligionen und den Verzehr rohen Robbenfleisches gewohnt und in Amerika "zivilisiert", erging es freilich wie später vielen Migranten: Die kulturelle Anpassung ging ebenso schief wie die spätere Rückkehr in die Heimat.
Franzobel hat schon in opulenten Romanen wie "Das Floß der Medusa" (2017) oder "Die Eroberung Amerikas" (2021) bewiesen, wie großartig er historische Stoffe neu zu erzählen versteht und dabei weder seine Fabulierlust noch seine sich mitunter in ironischen Begleitkommentaren äußernde Autorenposition verleugnet. Auch diesmal ist er dem Abenteuerroman alter Schule genauso nahe wie der modernen Perspektive auf ein groteskes Macht- und Männlichkeitsspiel, das leider in der heutigen Weltpolitik wieder den Ton angibt und von Franzobel psychologisch als Befreiung vom übermächtigen Vater interpretiert wird. Auch diesmal überzeugt er durch überraschende Tonwechsel, intensive Stoffaneignung und große Figurennähe.
Das Problem, das "Hundert Wörter für Schnee" über manche Strecken langatmig und redundant macht, ist eine mangelnde Konzentration auf das Wesentliche. Mit Peary, Cook und Minik hat der 57-jährige Bachmann-Preisträger, der sich schon in zwei Wochen im Sisyphus Verlag mit "Oberösterrrrrreich. Ein Heimatbuch" von den Inuit ab- und den heimatlichen "Mostschädeln" zuwendet, gleich drei Hauptfiguren, deren Entwicklung er verfolgt.
Die unterschiedlichen Charaktere der beiden Polarforscher herauszuarbeiten, gelingt Franzobel ausgezeichnet. In ihrem fanatischen Bestreben, als Erster den Pol zu erreichen, unternehmen die beiden Konkurrenten aber unzählige Anläufe. Und irgendwann zweifelt der Leser daran, ob es nötig ist, an jedem verdammten Kilometer jedes einzelnen Versuches live dabei zu sein, während wesentliche Weichenstellungen für den Plot mitunter recht beiläufig passieren.
Gleichzeitig ist es dem Autor ein spürbares Anliegen, die Eigenheiten der außergewöhnlichen Natur und der traditionellen Lebensweise, die er bei einer Recherchereise im Sommer 2023 erkundet hat, so nachvollziehbar wie möglich zu schildern. Das gelingt ihm ohne Einschränkung. "Wenn dieses Buch dazu beiträgt, die großartige Kultur der Inughuit (der nördlichsten und ursprünglichsten Gruppe der Grönland-Inuit, Anm.) zu verstehen und zu bewahren, ist schon einiges erreicht", schreibt er am Ende seiner Danksagung. Und so darf er am Ende auch das für in Anspruch nehmen, was zu vermelden Pearys und Cooks einziges Lebensziel gewesen zu sein scheint: Mission accomplished.
(Von Wolfgang Huber-Lang/APA)
(S E R V I C E - Franzobel: "Hundert Wörter für Schnee", Zsolnay Verlag, 526 Seiten, 28,80 Euro, erscheint am 18. Februar)
WIEN - ÖSTERREICH: FOTO: APA/Zsolnay Verlag