Die Wahl am 4. Juli wird dem Vereinigten Königreich einen Richtungswechsel bringen. Die nächste britische Regierung muss auf etlichen Problemfeldern aufräumen.
Das Vereinigte Königreich tanzt aus der Reihe: Während in vielen EU-Ländern ein Rechtsruck stattfindet, könnte das Land bei der Unterhauswahl am 4. Juli in die entgegengesetzte Richtung fahren. Die sozialdemokratische Labour-Partei unter Keir Starmer ist nach allen Prognosen haushoher Favorit und dürfte mit großer Wahrscheinlichkeit die regierenden Konservativen ablösen. Premier Rishi Sunak selbst hatte am 22. Mai überraschend die Wahl verkündet – wohl wissend, dass seine Tories in den Umfragen weit abgeschlagen zurück liegen. Im strömenden Regen stand Sunak an diesem Tag in der Downing Street und gab ein mehr als bemitleidenswertes Bild ab, selbst wenn die Hintergrundmusik eher für Schmunzeln sorgte. Der Song „Things can only get better“ wurde bei einer Demonstration in der Nähe abgespielt und war nicht zufällig gewählt: Schon bei der Kampagne von Tony Blair 1997 kam er zum Einsatz; der damalige Erdrutschsieg von Labour mit mehr als 43 Prozent der Stimmen brachte den Regierungswechsel. Bis 2010 blieb Labour in der Regierung, seit damals halten die Tories die berühmte Nummer 10 in besagter Downing Street. Weshalb Sunak nicht auf den Herbst warten wollte und damit auf weiter fallende Inflation und bessere Wirtschaftsdaten, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen; der Premier dachte wohl, es könnte nur noch schlimmer werden und die Wähler würden weiteres Zögern nicht tolerieren. Oder, um es mit einem typisch britischen Kommentar zur verregneten Wahlankündigung zu sagen: Things can only get wetter.
Ende Mai wurde das House of Commons jedenfalls aufgelöst, nun fiebert das Land einer Wahl entgegen, bei der die Weichen neu gestellt werden. Viel chaotischer als die letzten Jahre konnte es ohnehin nicht mehr werden: Sunak ist schon der fünfte Premier in den vergangenen sieben Jahren; auch nach den zerrauften Amtszeiten von Boris Johnson und Liz Truss (gerade mal 49 Tage im Amt) war kein echter Kurs zu erkennen. Jüngstes Beispiel ist die angestrebte Wiedereinführung der Wehrpflicht (National Service), für die sich Sunak plötzlich stark macht. Eine Debatte darüber wird von Experten angesichts der Bedrohungen in Europa zwar für sinnvoll erachtet, doch weshalb der Premier ausgerechnet vor einer Wahl damit anfängt, ist nicht zu erklären.
Problemlagen
Die Wirtschaft des Vereinigten Königreichs hat sich zuletzt etwas erfangen, doch es gibt eine Menge von Problemen, die auch den Wahlkampf dominierten. Das beschäftigt die Briten derzeit:
NHS:
Chronische Geldnot ist im Gesundheitswesen nichts Ungewöhnliches, das British National Health Service (NHS) wurde von der Politik in den vergangenen Jahren aber sukzessive ausgehungert. Die Folge: Es fehlt an Personal, Patienten warten mehrere Monate auf einen Arzttermin, das Gesundheitssystem entspricht insgesamt nicht mehr dem eines reichen Landes und hinkt vergleichbaren europäischen Staaten klar hinterher. Auf rasche Versorgung dürfen meistens nur royale Patienten oder jene mit ausreichend Geld für teure Privatbehandlungen hoffen.
Wohnen:
Es gibt zu wenig Wohnraum, der noch dazu teurer wird. Wer eine Wohnung oder ein Haus sucht, muss mit hartem Wettbewerb und hohen Preisen rechnen. Die Gründe sind vielfältig: Es wurde zu wenig gebaut, auch weil es kaum Vorgaben der Politik gab. Vor allem in Ballungszentren, die immer mehr Menschen anziehen, ist die Chance auf leistbares Wohnen fast aussichtslos. Der Durchschnittspreis im Vereinigten Königreich für ein Haus liegt inzwischen bei 290.000 Pfund (2013: 175.000 Pfund). In London sind es mehr als 700.000 Pfund, die durchschnittliche Miete beträgt mehr als 3.100 Euro. Vor allem junge Menschen sehen sich daher gezwungen, die für Mieter teuerste Stadt Europas zu verlassen. Diese Wohnungsnot ist ein gefundenes Fressen für Labour, zumal die Tories das 2019 abgegebene Versprechen, 300.000 neue Wohnungen pro Jahr errichten zu lassen, nicht einhalten konnten.
Postskandal:
Mehr als 900 Mitarbeiter der britischen Royal Mail wurden zwischen 1999 und 2015 angeklagt, weil sie angeblich Geld abgezweigt hätten, rund 700 von ihnen wurden verurteilt – viele waren danach finanziell ruiniert, Familien wurden zerstört, sogar Todesfälle sollen die Folge gewesen sein. Wie sich später herausstellte, war in Wahrheit eine vom japanischen IT-Konzern Fujitsu installierte, fehlerhafte Software namens Horizon schuld an den Malversationen. Erst wegen des öffentlichen Drucks – unter anderem durch eine Anfang des Jahres ausgestrahlte TV-Dokumentation – wurden den Betroffenen Entschädigungszahlungen zugestanden. Auch im Wahlkampf ist der größte Skandal in der britischen Justizgeschichte ein Thema.
Bahn:
Die Privatisierung der britischen Bahn kann getrost als Misserfolg bezeichnet werden: Verspätungen, teure Preise und der miserable Zustand vieler Strecken, die heute von Privatunternehmen betrieben werden, sind für Labour ein willkommenes Wahlkampfthema – die Sozialdemokraten versprechen eine Renationalisierung des ältesten Eisenbahnnetzes der Welt.
Wasserversorgung:
In den eigenen Fäkalien baden? Diese Idee gefällt den Briten nicht sonderlich gut. Doch lokale Wasserversorgungsbetriebe leiten seit Jahren ungeklärte Abwasser in Seen und Flüsse. Auch in diesem Bereich hat sich die Privatisierung nicht als positiv herausgestellt – außer vielleicht für die Investoren. Das liegt an mangelnder Kontrolle und jahrelanger Ignoranz seitens der Politik, aber auch an der veralteten Infrastruktur im Vereinigten Königreich. Auch hier müsste dringend investiert werden.
Die Kontrahenten
Sunak versus Starmer – die Kontrahenten kommen aus unterschiedlichen Ecken der britischen Gesellschaft, die noch immer von scharfen Klassengrenzen durchzogen ist, selbst wenn diese auf den ersten Blick verschwunden sind. Auf der einen Seite der stets lächelnde Sunak: Vater Arzt, Mutter Apothekerin, in einer Privatschule und einem Elite-Internat erzogen. Als Hedgefonds-Manager war er unter anderem in Kalifornien tätig, sein Schwiegervater ist einer der reichsten Industriellen Indiens. Das Privatvermögen von Sunak und seiner Frau, Geschäftsfrau und Designerin Akshata Murty, wird auf rund 770 Millionen Euro geschätzt – nach dem drohenden Aus in der Politik braucht er keinen Engpass im privaten Haushaltsbudget zu befürchten. Auf der anderen Seite Keir Starmer, Sohn eines Werkzeugmachers und einer Krankenschwester, der als Anwalt unter anderem für Umweltaktivisten tätig war und später Direktor der britischen Staatsanwaltschaft wurde. Seit zehn Jahren darf er ein „Sir“ vor seinen Namen setzen.
Aggressives Duell
In einer letzten Umfrage sollte Labour auf 37 Prozent kommen, die Tories gerade mal auf 18 Prozent – es droht ihnen eine Wiederholung des Dilemmas von 1997. Die Liberal Democrats könnten als betont pro-europäische Partei die Scottish National überholen; auch die Grünen sollen laut jüngsten Prognosen zulegen und könnten in Zukunft politisch eine größere Rolle spielen. Im ersten TV-Duell der Kontrahenten Anfang Juni zeigte sich Sunak angesichts dieser Vorhersagen entsprechend aggressiv; sein Hauptargument war die angeblich geplante Steuererhöhung auf breiter Basis durch Labour – ein Thema, das in Großbritannien immer zieht. Starmer blieb in diesem Duell so vage, wie er es offenbar als Devise für den gesamten Wahlkampf ausgegeben hat. Motto: Wir können uns jetzt nur noch selbst schlagen. Angesichts der Probleme der britischen Gesellschaft von hohen Lebenshaltungskosten über knappen Wohnraum bis zur schwachen Gesundheitsversorgung wird die Wahl tatsächlich als Selbstläufer gesehen – außer, Labour eckt irgendwo an und vergrämt größere Zielgruppen. Daher vermeidet der ehemalige Staatsanwalt Starmer nach Möglichkeit heikle Punkte; in einer TV-Diskussion wurde er daher als „Politik-Roboter“ bezeichnet. Doch inzwischen ist sogar in der Wirtschaft – traditionell eher aufseiten der Konservativen – die Stimmung gekippt. Das unvergleichliche Politchaos der vergangenen Jahre, der Zickzack-Kurs beim Klimaschutz und die Folgen des Brexit lassen den Wunsch nach einer stabilen politischen Führung aufkommen.
Würde das nicht reichen, wird Sunak außerdem nicht nur von links angegriffen, auch von rechts außen wird er schwer bedrängt: Reform UK, 2019 als Brexit Party gegründet, darf mit bekannten Themen wie Nationalismus, Migration, Trump & Co. auf einen kräftigen Stimmenzuwachs im rechten Spektrum rechnen. Es scheint sogar möglich, dass die Rechtspopulisten die Tories überholen. Der berühmt-berüchtigte Brexit-Anheizer Nigel Farage treibt Sunak vor sich her. Insofern ist das Vereinigte Königreich vielleicht doch nicht so anders wie der Rest von Europa.
Satirisch gesehen
Rishi Sunak belächelt aus einem goldenen Hubschrauber die Not der Menschen in überschwemmten Wohngebieten. Nigel Farage dient Wladimir Putin als Marionettenfigur. Britische Politiker und Geschäftsleute flüchten mit vollgestopften Taschen von der brennenden Insel. Der ehemalige Bewährungshelfer Christopher Spencer nimmt unter seinem Künstlernamen „Cold War Steve“ in seinen Fotocollagen seit 2019 die britische Politik aufs Korn. Seine Werke sind zum Symbol für den Zustand einer Gesellschaft geworden, die von Enttäuschung und Zorn geprägt ist und in der manche gleicher sind als andere. „Eine Parade von unfähigen und eigennützigen Politikern und anderen politischen Akteuren hat das Land immer weiter ins Chaos gestürzt“, sagt Spencer zu News. Rechtliche Probleme fürchtet Spencer indes nicht: „Derzeit haben wir noch die Freiheit, die Leute an der Macht durch Satire und kritische politische Kommentare zur Rechenschaft zu ziehen.“ Diese Freiheit sei nicht selbstverständlich und müsste um jeden Preis geschützt werden.
Tatsächlich scheint die Realität längst drastischer zu sein als jede Satire. Sein Job sei manchmal schon allzu einfach, sagt Spencer: „Bestimmte Charaktere, die wir täglich in dieser Mega-Krise sehen, scheinen direkt aus den Seiten wenig glaubwürdiger Fiktionen oder Märchen entnommen zu sein.“ Und was erwartet er von der Wahl? „Verschiedene politische Akteure schüren erneut Hass und Spaltung.“ Ein Sieg von Labour sei möglich, aber was danach komme, sei ungewiss.
Britische Politiker in allen möglichen und unmöglichen Posen setzte Cold War Steve auch bei der Gestaltung des Musikvideos zum Song „UK Grim“ von Sleaford Mods ein. Auch dieses Elektropunk-Duo setzt sich mit dem Zustand der britischen Politik und Gesellschaft auseinander. „In England hört dich niemand schreien“ lautet eine Textzeile des Songs. Diese Wut, die in solchen Liedern zu hören ist, wird sich wohl bei der Wahl am 4. Juli ihren Weg bahnen.
Der Beitrag erschien ursprünglich im News 25+26/2024.