News.at: Worum geht es in Ihrem Buch?
Heike Leitschuh: Ich frage, warum es in unserer Gesellschaft immer ruppiger, respektloser und auch unsolidarischer zugeht. Dazu habe ich mit vielen Menschen aus der unterschiedlichen Bereichen gesprochen und überall derselbe Befund: Die Ichlinge sind auf dem Vormarsch. Ich analysiere, woher das kommt, suche nach Gegentrends und zeige, was man dagegen tun kann.
Wie sind Sie auf das Thema gekommen?
Schon seit ein paar Jahren beobachte ich, dass das Zusammenleben unschöner wird. Überall trifft man auf Zeitgenossen, die elementare Dinge des Umgangs nicht mehr anwenden. Es wird unhöflicher, unfreundlicher, rücksichtsloser. Den Ausschlag gab dann die Nachricht, dass die Rettungsfahrzeuge in Hessen oft zu spät zu Patienten kommen, weil sie viel zu oft für Bagatelldinge, wie einen Zeckenbiss, einen gebrochenen Finger oder Kopfschmerzen beansprucht werden. Das konnte ich kaum glauben und wollte der Sache auf den Grund gehen.
Was wollen Sie mit Ihrem Buch bezwecken?
Ich möchte, dass das Thema in einer größeren Öffentlichkeit diskutiert wird. Über diese Debatte hoffe ich dann auch, dass die Politik darauf aufmerksam wird.
Denken Sie, hat der Egoismus wirklich zugenommen?
Ich denke nicht, dass wir ein Volk von Egoisten geworden sind. Vielmehr geht der Riss durch uns hindurch: Wir können liebenswürdig und hilfsbereit sein, aber auch total unsymphatische Ichlinge. In den Familien, im Freundes- und Kollegenkreis funktioniert es meist noch ganz gut mit der Solidarität. Fremden aber gegenüber werden oft die Ellenbogen ausgefahren. Das hat viel damit zu tun, dass die Menschen im täglichen Konkurrenzkampf stark unter Stress stehen.
Ein „gesunder Egoismus“ gehört aber zum eigenen Überleben auch dazu. Wie kann man einen Mittelweg finden aus gesundem Egoismus sowie auch Mitgefühl und Solidarität?
In der Tat muss man auch an sich denken, keine Frage. Und es ist auch super, dass die Menschen heute selbstbewusster ihre Interessen vertreten. Ich sehe jedoch, dass das Pendel zu sehr in diese Richtung ausschlägt und dass sich viele über die Folgen ihres Tuns kaum noch Gedanken machen. Zum Beispiel wenn jemand an der Kasse steht und fröhlich weiter telefoniert, anstatt der Kassiererin ‚Guten Tag‘ zu sagen. Widerlich wird es, wenn Gaffer einen Unfall filmen wollen und dabei die Rettungskräfte sogar aktiv behindern.
Sie schreiben über egoistische Mütter, die im Kaffeehaus sitzen und Kaffee trinken, „während die Kinder die Gäste tyrannisieren“. Die Mütter sollten dann, so schreiben Sie, das Kaffeehaus verlassen. Ist das nicht ebenso egoistisch, sich darüber aufzuregen und das Kaffeehaus nur für Erwachsene „die sich benehmen“ zu beanspruchen?
Da fühle ich mich total missverstanden! Klar sollen Kinder mitten ins Leben. Wer aber mit seinen Kindern in ein Café oder ein Restaurant geht, muss sich um sie kümmern und kann sie nicht sich selbst überlassen, damit man selbst in Ruhe Kaffee trinken kann. Das ist mein Punkt: Die Eltern sind es, die meinen auf niemanden Rücksicht nehmen zu müssen!
Bleiben wir beim Kinderthema: Werden Kinder Ihrer Meinung nach heute zu kleinen Egoisten erzogen?
Wenn man sie dauernd fragt, was sie haben möchten und ihnen nicht beibringt, dass es auch noch andere Menschen gibt, auf die man achten muss, dann ja.
War früher tatsächlich alles besser?
Nein, natürlich nicht. Denken Sie nur mal an die Juden im Zweiten Weltkrieg, die aus Nazideutschland flüchten mussten. Sie wurden keineswegs überall mit offenen Armen empfangen. Und natürlich gab es immer schon Menschen, die nur ihr eigenes Wohl im Auge hatten. Doch sehe ich eine deutliche Tendenz zu weniger Empathie und Solidarität in den letzten Jahren. Ich kann das nicht empirisch belegen, doch meine Beobachtungen und die meiner vieler Interviewpartnerinnen zeigen eine deutliche Tendenz.
Welche politischen Weichenstellungen müssten passieren, damit dieser Ego-Trip unserer Gesellschaft, wie Sie ihn beschreiben, aufgehalten werden kann?
Von der Politik erwarte ich, dass sie konsequent überprüft, was sie falsch gemacht hat und falsch macht. Welche Weichen hat sie gestellt, die mit aller Konsequenz nur noch das Ich fördern, während das Wir völlig reduziert wird. Ich erwarte weiter, dass die Politik auch den ganzen Bereich der Deregulierung von öffentlicher Daseinsvorsorge wie Wasserversorgung, Öffentlicher Verkehr usw. rückgängig macht.
Mittlerweile haben wir Krankenhäuser, die in Konkurrenz zueinander stehen Da geht es vor allem um ökonomische Interessen. Das ist doch komplett absurd und gefährlich obendrein. Außerdem muss die Regierung sich dringend für eine gerechtere Besteuerung einsetzen und alle Steuerschlupflöcher schließen, die Finanzmärkte konsequent regulieren. Es muss verhindert werden, dass immer noch mehr Millionäre entstehen. Und die Reichen müssen einfach mehr zahlen.
Und ich würde dringend raten, genauer hinzusehen, wo überall in der Gesellschaft − gerade junge − Menschen an alternativen Konzepten für ein Leben und Wirtschaften jenseits von Wachstum und Neoliberalismus arbeiten. Aus diesen vielen kleinen Pflänzchen kann was Großes entstehen. Wenn man sie unterstützt.
„In Kleinstädten und ländlichen Gegenden ist die Chance größer, spontane Hilfebereitschaft zu erfahren, als in Großstädten“, schreiben Sie. Ist das Ihr Gefühl oder lässt sich das belegen? Warum, denken Sie, ist das so?
Ich kann keine Belege zitieren, aber es scheint mir offensichtlich zu sein, dass Hilfsbereitschaft auch damit etwas zu tun hat, ob sich die Menschen kennen. Und das ist auf dem Land eben noch vielfach der Fall. Auch Empathie entsteht leichter in einem Umfeld, in dem sich die Menschen nicht anonym gegenüberstehen.
Was steht sonst auf dem Spiel, wenn sich dieser Trend des zunehmenden Egoismus fortsetzt?
Die Gesellschaft könnte erheblich kälter werden. Schon jetzt macht sich in der Flüchtlingsfrage Hartherzigkeit breit in Europa. Schon jetzt erleben wir, dass Menschen Arme und Obdachlose achselzuckend betrachten, weil sie meinen, die seien doch selber schuld an Ihrem Elend. Schon jetzt driften die gesellschaftlichen Schichten auseinander, haben kaum noch Berührungspunkte, man bleibt am liebsten unter sich. Schon jetzt machen sich Besserwisserei breit, man hört sich nicht mehr zu, beschimpft sich statt miteinander zu diskutieren. Das kann nicht gut sein für eine Demokratie.
Was sollte jeder einzelne dagegen tun? Was wäre das allerwichtigste?
Von den Bürgerinnen und Bürgern erwarte ich, dass sie sich über ihr eigenes Verhalten Gedanken machen. Sie sollten sich fragen, lebe ich verantwortungsvoll? Dazu gehört auch die Frage, wieviel ich mir von den globalen Ressourcen nehme. Muss es der SVU, die Fernreise, die große Wohnung sein? Kann ich nicht etwas bescheidener, also nachhaltiger leben? Mich weniger um das Haben und mehr um das Sein kümmern? Kann ich irgendwo helfen, wenn Hilfe benötigt wird? Oder bin ich dauernd nur mit mir, meinen Konsum und meinem Smartphone beschäftigt? Oft sind es nur Kleinigkeiten, die aber dann in ihrer Gesamtheit viel bewirken können.
Über die Autorin:
Heike Leitschuh hat Politikwissenschaften in Marburg studiert und war Redakteurin im Fachverlag der Ökologischen Briefe. Als selbstständige Journalistin, Autorin, Moderatorin und Beraterin konzentriert sie sich vor allem auf die Themenbereiche der zukunftsfähigen Unternehmensentwicklung, Postwachstumsökonomie, Transformationsprozesse und Nachhaltigkeit.
Info zum Buch:
Heike Leitschuh - Ich zuerst! Eine Gesellschaft auf dem Ego-Trip
Westend Verlag
256 Seiten
ISBN: 978-3-86489-228-8
Preis: € 19,50