Zwischen Rückhalt und Rückhand
Karin und Wofgang Thiem formten ihren Sohn zum Champion - ohne die Hysterie typischer Sportlereltern, aber auch ohne die Bereitschaft, sich auf empörte Zurufe von außen einzulassen.
Nun, nach den fünf Finalsätzen im Arthur Ashe Stadium von New York und dem ersten Grand-Slam-Sieg seiner Karriere, schottet sich Dominic Thiem, 27, für ein paar Tage komplett von der Öffentlichkeit ab - um endlich zu regenerieren. Und um, wie er sagt, "über die komplette vergangene Reise zu reflektieren".
Diese Reise, dieser Werdegang vom schüchternen, etwas linkischen Teenager aus der niederösterreichischen Provinz zum globalen Sportstar, war zwar ein permanenter, mitunter rasant steil verlaufender Aufstieg. Aber sie war auch eine Odyssee der Qualen, der Niederlagen, der Rückschläge. Thiem war es zwar, der servierte, retournierte, volleyierte. Doch sein unverzichtbares Netz bildete - im Gegensatz zu den Skifahrern oder Fußballern, die in wohlig komfortable Verbandsstrukturen eingegliedert sind - über all die Jahre hinweg fast ausschließlich die Familie. Und das bedeutete Erleichterung und Druck in einem.
"Der Papa, die Mama, die Großeltern - wie viel Zeit und Geld die da hineingesteckt haben, wie viele Tausende Kilometer sie für mich gefahren sind: Natürlich bin ich froh, dass ich ihnen jetzt vieles zurückgeben kann", erzählte Dominic Thiem noch in den letzten Tagen des Lockdowns, bevor es im Tennis wieder so richtig losging, im großen News-Interview. "Ja, das wäre für mich und die ganze Familie schmerzhaft gewesen, wenn sich dieser Aufwand nicht gelohnt hätte." Doch das hat er nun wohl endgültig. Mit seinem Turniersieg im Big Apple beglückte Thiem am vergangegen Sonntag vom Bundespräsidenten abwärts die gesamte Sportnation. Im Frühjahr 1993 beglückte er nur seine Eltern, die dafür umso überraschender: "Als wir erfuhren, dass wir ein Kind bekommen, sind wir zunächst aus allen Wolken gefallen", sagt Mutter Karin, 47, und ihr gleichaltriger Mann Wolfgang nickt beipflichtend.
Damals waren die beiden erst Anfang 20, sie Ökologiestudentin im ersten Abschnitt, er Grundwehrdiener kurz vor der Abrüstung, beide weitgehend mittellos. Also mussten dringend Einnahmen her für diese eigentlich noch recht lose Verbindung, die nun zur Familie wuchs. Auch wenn da nicht viel war, was Wolfgang Thiem wirklich beherrschte. Außer vielleicht, nun ja - Tennis.
Sandplatz statt Sandkiste
Die Ausbildung zum Tennislehrwart und in der Folge zum Tennislehrer war rasch absolviert, und auch Karin, ebenfalls eine passionierte Spielerin, stand bereits wenige Monate nach Dominics Geburt als weiß gewandete Ausbildnerin auf dem Court. "Der Dominic war von Anfang an dabei, als Baby saß er im Ballwagerl und hat eine Filzkugel nach der anderen rausgeworfen", blickt sie zurück. Im Alter von vier Jahren schnappte sich der nunmehrige New-York-Sieger erstmals selbst ein Racket, ließ das Sandkistenschauferl für immer fallen und umklammerte mit linker und rechter Hand gleichzeitig den gepolsterten Schlägergriff. Von da an sollte die Thiems das Tennis nicht mehr loslassen.
"Der Dominic ist in dieses Leben hineingewachsen, genauso wie wir", sagt Vater Wolfgang. Anfangs, erinnert er sich, sei seine Frau mit dem Buben noch zu irgendwelchen Jugendturnieren gefahren, habe mit ihm in heruntergekommenen Hotels mit miesen Trainingsbedingungen übernachtet. "Wenn du von dort weg kontinuierlich alle diese Stufen hinaufgehst, wächst du ganz einfach mit der Sache mit."
Sein Vater, sagt Dominic Thiem, habe als Trainer eine ähnliche Karriere gemacht wie er selbst als Spieler: "Vom einfachen Tennislehrer zu einem der besten Coaches dieser Branche -dafür braucht man eine unglaubliche Zielstrebigkeit und Konsequenz, davon hat er mir viel mitgegeben."
Eine typisch österreichische Sportlerkarriere, also leidliches Talent, gepaart mit wachsender Selbstzufriedenheit -das war es nicht, was Karin und Wolfgang Thiem für ihren Sohn wollten. Entweder ganz oder gar nicht. Und irgendwann war das Ding dann zu groß, zu umfassend, zu komplex, um scheitern zu dürfen. Wenn Dominic wirklich Tennisprofi werden wolle, dann müsse er eben auch die negativen Seiten mittragen, das war der familiäre Deal. Den viele oft als Drill missverstanden. Wofgang Thiem: "Wenn sich ein Kind dagegen sträubt, ist das auch kein Problem. Nur Tennisspieler wird es dann halt nicht."
Karin, deren Mutter eine Wohnung in der Wiener Innenstadt verkaufte, um die vielen Reisen zu den Jugend-und Challengerturnieren zu finanzieren, hielt von Dominic den Druck ab, den es sozial verursacht, wenn man ab einem gewissen Zeitpunkt nur noch den Sport im Fokus hat. "Ich habe öfter als einmal gehört, dass meine Kinder Außenseiter sind", sagt sie. Und der Vater, der baute, hart aber herzlich, auf sportlicher Ebene genau diesen Druck wieder auf: "Ich war schon auch ein bissel verrückt", sagt er.
Turnier mit Nachspiel
Einmal - der Dominic habe soeben irgendwo in Oberösterreich ein Turnier beendet - sei man danach schnurstracks zurück in die Südstadt gefahren, wo der Knirps an einem Samstagabend noch zehn mal 400 Meter laufen musste. Ein anderes Mal habe er, der Vater, den Sohn und dessen Trainingspartner strafweise durch den Südstadtteich schwimmen lassen, weil bei den vorangegangenen Übungen irgendwas nicht funktioniert habe. Und ein andermal wiederum, als die Thiems eine Woche mit Freunden auf Skiurlaub waren, sei man ab Mittwoch nach der Piste noch trainieren gegangen, weil in naher Zukunft ein Turnier anstand: "Da sagten die anderen Eltern:,Um Gottes willen, was tut ihr denn dem armen Buben an, lasst ihn doch in Ruhe!'"
Am Montag, dem 14. September 2020 um 02.20 Uhr morgens mitteleuropäischer Zeit, sinkt der "arme Bub" nach vier Stunden, zwei Minuten und fünf Sätzen rücklings zu Boden und hält sich für ein paar Sekunden die Hände vors Gesicht. Verbirgt er seine Tränen? Verbirgt er seine Erleichterung, es endlich allen gezeigt zu haben? "Nach dem Matchball habe ich nur pures Glück empfunden", verrät er zwei Tage später auf einer Pressekonferenz. Bereits Minuten nach dem Spiel bedankt er sich durchs Stadionmikro mit brüchiger Stimme vor laufenden Kameras bei seinen Eltern, bei seiner Familie.
"Ich sehe viele, die den gleichen Weg gehen wollen wie wir und sich von so vielen falschen Leuten beeinflussen lassen", sagt Karin Thiem. Im Falle ihres Kindes, erinnert sie sich, sei es ausgerechnet der Turnprofessor gewesen, der ihr vor gut einem Jahrzehnt gesagt habe: "Ihr Sohn mag ja ganz gut Tennis spielen, aber er kann nicht richtig schön schwimmen." Damals war Dominic Thiem österreichischer Nachwuchsmeister im Tennis - und hatte einen Zweier in Turnen. Und als selbst die Zeichenlehrerin die turnierbedingten Fehlstunden mit einem Fünfer quittieren wollte, entschlossen sich Karin und Wolfgang Thiem, ihren Sohn mit 16 Jahren aus der Schule zu nehmen. Heute ist er eine Klasse für sich.
Die große Stärke des kleinen Bruders
Moritz Thiem wurde für den oft über Wochen isolierten Tennisstar zu eine Art Link zum Echtleben.
In seinem Hotel in New York war der Boden mit Grenz-und Haltelinien bedruckt, die er nicht überschreiten durfte. Bei Zuwiderhandeln hätten drakonische Strafen gedroht. Sein Physiotherapeut verschob im Shuttlebus nur für ein paar Sekunden die Schutzmaske, um einen Schluck zu trinken -und wurde sofort bestraft. In Coronazeiten gehört im Welttennis die systematische Isolation der Protagonisten zum Turnieprogramm. Doch auch abseits von Covid wird das Leben im Wettkampfalltag oft zur Blase der Einsamkeit. "Diese Gefahr ist definitiv da und sogar groß", sagt Dominic Thiem. Nachsatz: "Unter die Topt Ten zu kommen und dort auch zu bleiben, ist definitiv unmenschlich."
Ein Auge für die Wahrheit
Feste Freundin, fixe Partnerin, Ehe, eigene Familie? "Ich muss der Wahrheit ins Auge sehen: Eine normale Beziehung ist unter meinen Rahmenbedingungen kaum möglich", bekennt der US-Open-Sieger. Und auch die kurze, durchaus medienwirksame Verbindung mit Tennisspielerin Kristina Mladenovic war eher das, was Ex-Trainer Günter Bresnik nüchtern als "eine Liebe mit dem Fundament einer Interessensgemeinschaft" bezeichnete. Und so wurde Moritz, der um sechs Jahre jüngere Bruder, zu einer der wichtigsten Ansprechpersonen. Und zu einer Art Link zum Echtleben. Früher sahen einander die Thiem-Brothers kaum, doch nun bilden sie, während die Eltern in der Nähe des Neusiedlersees wohnen, eine Art Männer-WG in Thiems Heimatort Lichtenwörth - mitunter mit Playstation-Sessions bis ins Morgengrauen
Auch der "kleine Thiem" spielt mittlerweile auf Profiebene Tennis. Er wird von Vater Dominic betreut und sammelt bei Future-und Challangeturnieren Erfahrungen im Spitzensport. "Natürlich geht es mir auf den Zeiger, wenn die Leute sagen, dass der Bruder viel, viel besser ist. Aber ich weiß auch, wie schwer es in diesem Sport ist und wie viel man da reinhauen muss", sagt er.
Der eine internationaler Star, der andere ein sportiver Normalo -dieses Match wurde nicht zum Grundlinienduell der Eitelkeiten, sondern eher zu einem Doppel zweier enger Vertrauter, die einander perfekt ergänzen: "Wir haben beide Charkterzüge, von denen der jeweils andere profitieren kann", ist Dominic Thiem überzeugt. Und ja, er schaue sich von Moritz dessen Direktheit ab. "Er sagt immer, was er sich denkt, das hilft ihm dabei, seinen Willen durchzusetzen. Das ist seine ganz große Stärke, von der ich lernen kann." Und der Jüngere retourniert: "Ich betrachte es als Glück, dass wir in gewissen Dingen so verschieden sind -deswegen verstehen wir uns so gut. Ich glaube, wir haben noch nie so richtig gestritten."
Die richtige Dimension
Auf dem Platz ist Dominic Thiem, etwa wenn er ein Finalmatch nach zwei verlorenen Sätzen noch dreht, die personifizierte Willenskraf. Doch außerhalb des Courts tue er sich mitunter schwer, nein zu sagen oder wichtige von nicht so wichtigen Dingen zu unterscheiden. Und wenn er das Beziehungsglück des fix liierten Bruders sieht, so hilft das mitunter, akut schmerzende Niederlagen richtig zu dimensionieren. "Manchmal kommt einem schon der Gedanke: Wie schön wäre es, jetzt etwas komplett anderes zu machen, wie schön wäre es etwa, am Neusiedlersee zu flanieren."
Irgendwann will Dominic Thiem ein ganz normales Familienleben führen und auch selbst Vater werden: "Hundertprozentig, auf jeden Fall." Und vielleicht als Mittdreißiger in etwa so leben, wie es ihm der jüngere Bruder jetzt vorexerziert.
In der Hermetik des Sportes ist der Große besser. Doch im weiten Land der Normalität ist es der Kleine, der die größeren Erfahrungen hat. "Aber am Ende ist es Familie, da wird es immer so bleiben, dass man sich nichts neidig ist", sagt Moritz Thiem. Diesmal hat er den Schlusssatz gewonnen.
Aus anderem Holz geschnitzt
Günter Bresnik und Sepp Resnik lehrten Thiem Härte - so lange, bis er nächtens freiwillig Baumstämme schleppte.
Und immer wieder schoben die Eltern diszipliniert den Schmerz beiseite, den es bedeutet, das eigene Kind leiden zu sehen. "Natürlich tut er einem leid, das ist ja gar kein Thema", sagt Wolfgang Thiem heute. "Du leidest mit deinem Kind anders mit als ein reiner Trainer mit seinem Schützling." Doch Leid und Leistung haben mitunter mehr gemein als bloß die Anfangssilbe. Und so trat im Auftrag der Eltern Günter Bresnik auf den Plan. "Ich habe dem Kleinen schon extrem viel abverlangt", bekannte einmal der Mann, der Dominic Thiem bis zum Vorjahr trainierte. Und der nun, nach seiner Entlassung, mit ihm im Rechtsstreit liegt.
Rückblick: Der kleine Thiem war spielerisch begabt, sehr begabt. Kaum ein gleichaltriger Österreicher konnte den Volksschulknirps und späteren Gymnasiasten schlagen. Regionale und nationale Nachwuchsmeisterschaften waren für ihn nicht viel mehr als Sonntagsspaziergänge mit Filzkugel. Doch dann kam Bresnik - und das alles sollte plötzlich so gut wie nicht mehr wert sein. "Talent ist unbedeutet", erklärte er im News-Interview. Und gewöhnte dem erfolgsverwöhnten Teenager als erstes die beidhändige Rückhand ab.
Das abgeschaffte Talent
Talentiert oder nicht, im Grunde genommen könne es jeder in die Top Ten des Welttennis schaffen, wenn er nur konsequent daran arbeite - soweit die Bresnik-These: "Im Endeffekt sind immer die die Besten, die über eine längere Zeitspanne richtig trainieren." Also galt es, die körperlichen Voraussetzungen für ein richtiges Training zu schaffen -und zwar mithilfe eines Experten für Qualen aller Art.
"Die Legende besagt, dass Thiem im Jahr 2012, um seine Belastbarkeit zu testen, Holzstämme auf dem Rücken trug, voll bekleidet Flüsse durchquerte und nach Mitternacht durch den Wald rannte", schreibt etwa der seriöse "Le Figaro" voll sensationalistischer Bewunderung nach Thiems Sieg in New York. - Der Mann, der dem schlaksigen Sportler plötzlich Bäume aufbürdete, heißt Sepp Resnik.
Dominic Thiem: "Für heute bin ich mit dem Training fertig." Sepp Resnik: "Gut, dann beginnen wir heute Nacht mit dem richtigen Training." Das, erzählte Resnik, sei der allererste Dialog zwischen ihm, dem Muskelberg mit dem Rübezahlbart, und dem drahtigen, aber alles andere als wuchtigen Thiem gewesen. Irgendwann im Herbst 2013 war das, und Thiem war soeben erst 20 Jahre alt geworden. Als erstes, sagt Resnik, habe er dem "Dom" ein Anatomiebuch gekauft: "Ich wollte, dass er seine künftigen Trainingsschmerzen auch richtig zuordnen und benennen kann."
Vom Rookie zum Rocky
Einen Dreifach-Ironman hatte Resnik erfolgreich absolviert, war in 80 Tagen um die Welt geradelt. Nun ging es darum, aus Thiem, dem angehenden Winner, Thiem, den gnadenlosen Fighter zu machen. Vom Rookie zum Rocky gewissermaßen.
Resnik und Thiem trainierten ausschließlich im Freien und fast ausschließlich in der Nacht. Denn tagsüber, da standen die normalen Übungseinheiten auf dem Programm. Doch das, was danach ablief, war alles andere als normal: Thiem durchwatete mit seinem martialischen Betreuer esikalte Bäche und schleppte statt blank polierter Chromgewichte Baumstämme auf Hügel und Berge. Zur Abrundung veranstaltete Resnik dann noch nächtliche Orientierungsläufe durch den weitläufigen Park der Militärakademie Wiener Neustadt. "Das Ziel bestand nicht darin, eine gewisse Distanz zurückzulegen, sondern darin, ohne Licht zum Ausgangspunkt zurückzufinden", verriet Resnik.
Und Thiem fand zum Ausgangspunkt zurück. Und auch ins Licht: Sieben Jahre später stieg er dann in Schwechat in den Flieger nach New York und gewann.
Dieser Beitrag erschien ursprünglich im News 38/2020.