Heute wählt die Steiermark. Alle Umfragen deuten darauf hin, dass sie einen blauen Landeshauptmann bekommen könnte. Gleichzeitig ist sie auch das Land mit der stärksten KPÖ-Präsenz. Grund genug, Kennerinnen und Kenner über das Land hinterm – oder vor dem – Semmering erzählen zu lassen.
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Während sich in Wien FPÖ-Chef Herbert Kickl immer noch grämt, dass er keinen offiziellen Regierungsbildungsauftrag erhalten hat, könnte die Sache für seine Partei in der Steiermark ein bisschen anders laufen. Hier steht in der Landesverfassung, dass die stimmenstärkste Partei mit der Regierungsbildung beginnt. Scheitern kann sie trotzdem. Etwa wenn ÖVP und SPÖ daran festhalten, in der Grazer Burg weiter gemeinsam regieren zu wollen.
Meinungsforscher Christoph Haselmayer (IFDD) rechnet jedenfalls mit einem Wahlsieg der FPÖ. Seit drei Jahren erhebt er die Stimmung in der Steiermark. Anfangs lagen da ÖVP, SPÖ und FPÖ gleichauf, seit Mitte 2023 seien aber die Blauen in den Umfragen vorn. Mittlerweile deutlich. „Die FPÖ ist vor allem am Land stark. Dass die ÖVP das noch abfängt, ist unwahrscheinlich“, sagt er. Deren Spitzenkandidat, Landeshauptmann Christopher Drexler, habe es „nicht geschafft, einen Landeshauptmann-Bonus aufzubauen.“ Dazu komme, dass die Entscheidung Van der Bellens, Kickl nicht den Regierungsauftrag zu geben, die Stimmung weiter Richtung FPÖ treibe. „Die Leute sind verärgert.“
Schwarz, rot – und nun blau? Ist die Steiermark ein „Swing State“? Warum sind hier sowohl die FPÖ als auch die KPÖ am anderen Ende des politischen Spektrums stark? News bat Landsleute und Steiermark-Experten um eine Vermessung des Bundeslands:
Irmgard Griss: "Die Steirer sind nicht so gehorsam"
Das Klima in ihrem Heimatbundesland habe sich verändert, sagt Irmgard Griss: „Früher, etwa seit der Zeit des ÖVP-Politikers Josef Krainer junior, gab es in der Steiermark Aufbruchstimmung und eine optimistische Zukunftseinstellung. Das hat sich geändert. Das hat mit Corona zu tun und mit der Angst vor Zuwanderung, mit der Teuerung, dem Klima. Es herrscht Zukunftsangst. Und das stärkt die FPÖ.“
Mehr Gewicht als im Rest Österreichs hat hier die KPÖ, die in Graz mit Elke Kahr die Bürgermeisterin stellt. „Sie wird nicht nur von Linken gewählt. Den Leuten gefällt, dass sie den Großteil ihres Gehalts für soziale Zwecke spenden. Das geht bis tief in bürgerliche Kreise hinein. Dazu kommt das Aufmüpfige: Man will es den etablierten Parteien zeigen, also ÖVP und SPÖ. Darum wählt man KPÖ oder FPÖ“, sagt Griss.
Sind die Steirer generell aufmüpfig? „Die Steirer sind nicht so gehorsam, dass sie sich gerne unterordnen. Sie lassen sich nicht so viel gefallen, wollen selbst bestimmen. Dazu kommt Bodenständigkeit, ein gewisser Stolz, Abgrenzung gegenüber Wien. Die Steiermark ist ein Grenzgebiet, da gibt es ein Bedürfnis, sich abzugrenzen, die eigene Identität zu betonen.“
Was das Land prägt? Die Industie, die Hammerherren von früher, sind es nicht mehr, sagt Griss. Vielmehr ist es für sie die blühende Uni-Stadt Graz. Und, Überraschung für so manchen Wiener: „Das Ausseerland ist von Graz weit weg und nicht so prägend, wie es das Salzkammergut in Oberösterreich ist. Es ist sehr stark von den Wienern in Beschlag genommen. Vielen Steirern sind die Kärntner Seen oder die Adria näher. Die Weingegend der Steiermark ist stärker identitätsstiftend als das Ausseerland.“
Irmgard Griss
wurde in Bösenbach/Deutschlandsberg geboren. Studium der Rechtswissenschaften in Graz. Sie war die erste Präsidentin des Obersten Gerichtshofs, Bundespräsidentschaftskandidatin und NEOS-Politikerin. Griss lebt in Graz.
Franz Küberl: "Man ist gerne unter sich"
„Die Steirer ticken nicht anders als andere Menschen in Österreich“, sagt der frühere Caritas-Präsident Franz Küberl. „Und sie ticken sehr unterschiedlich. Wir haben Menschen, die stürmen die Skigebiete und keilen um Plätze, wir haben aber auch Leute, die sich bei Essensausgaben anstellen und um Plätze keilen. Wir haben Leute, die zukunftsoffen sind, und Leute, die große Sorgen haben.“ Aber, so Küberl, „es gibt eine erkleckliche Anzahl von Leuten, die theoretische Ängste haben, dass es enger werden könnte. Ich staune, wie viele Menschen aus gesichertem Milieu sich als Opfer fühlen. Gesellschaft und Politik sind opferorientiert. Unsinnigerweise.“
Mancher klopfe sich gerne auf die Schulter, dass „das steirische Wesen etwas Besonderes“ sei, so Küberl. „Aber ich würde ehrlicherweise nichts erkennen, was am steirischen Wesen genesen soll. Ich glaube aber auch nicht, dass das eine Urstimmung im Land ist, dieses ,mir san mir‘. Aber natürlich ist es das Recht jedes Menschen, sich als etwas Besonderes zu empfinden. Denn jeder Mensch ist etwas Besonderes. Insbesondere ist jeder Steirer etwas Besonderes, aber auch jeder Wiener.“
Ein Zitat über die Steirer mag Küberl besonders: „Alles, was ein Steirer trägt, ist ein Steireranzug“, aus dem Roman „Aus dem Leben Hödlmosers“ von Reinhard P. Gruber. „Es entstand wohl vor dem Hintergrund, dass überbordende Heimatgläubige meinten, dass ein wirklicher Steirer nur am dunkelgrau-grünen Anzug erkennbar sei“, so Küberl.
Warum die Steiermark ein guter Boden für literarische und politische Avantgarde war? „In Graz kommen das Steirische, das Kärntnerische, das Slowenische zusammen, das ergab ein Amalgam von Leuten, die hier tätig waren. Das ,Modell Steiermark‘ der 1970er- und 1980er-Jahre war politische Avantgarde. Die Fähigkeit, dass man über den engeren Saum der Konservativen schaut und mit möglichst vielen Menschen ins Gespräch kommt, das war eine Phase der Offenheit und Offenwerdung. Diese Kultur der offenen Debatten ist seltener geworden. Es ist auch die Zahl jener knapper geworden, die Interesse daran haben, mit anderen in Widerspruch zu treten. Das halte ich für einen Verlust. Diese Vergewisserung, dass man unter sich ist und eh gleich denkt, beherrschten alle Steirerinnen und Steirer, aber auch die Menschen anderswo.“
Franz Küberl
wurde in Graz geboren, wo er auch heute lebt. Er war Direktor der steirischen und Präsident der österreichischen Caritas. Zudem war er Mitglied des ORF-Publikumsrats und des Stiftungsrats. Jüngstes Buch: „Zukunft muss nach Besserem schmecken“
Katrin Praprotnik: "Es gibt positive Koalitionsaussagen"
Die an der Universität Graz tätige Politikwissenschafterin sieht eine Besonderheit in der steirischen Politik: „Es gibt hier positive Koalitionsaussagen, wer mit wem regieren möchte. ÖVP und SPÖ titulieren das als steirischen Weg.“ Im Bund habe es solche Festlegungen in den ersten Nachkriegsjahrzehnten gegeben. „Ab dem Zeitpunkt, wo ÖVP und SPÖ in den 1960er- und 1970er-Jahren gesehen haben, es ginge sich vielleicht alleine aus, hat man das gelassen. Und als es keine klaren Mehrheiten mehr gab, hat man vor Koalitionsvarianten, bei denen man nicht dabei ist, gewarnt, weil das als mobilisierender gilt.“
In der Steiermark werben ÖVP und SPÖ fürs Zusammenarbeiten. Das wurde von den Wählern oft nicht belohnt, eine gemeinsame Mehrheit ist sich aber bisher immer ausgegangen. „Wobei“, so Praprotnik, „die beiden Parteien bis 2011 ohnehin durch das Proporzsystem miteinander in der Regierung gesessen sind. Nach der Wahl 2015 ist dann der besondere Fall eingetreten, dass die ÖVP den Landeshauptmann bekommen hat, obwohl die SPÖ stärker war.“ Allerdings – und das ist die steirische Besonderheit innerhalb der SPÖ –, die hiesigen Roten schließen eine Zusammenarbeit mit der FPÖ nicht kategorisch aus.
Die ÖVP wiederum hat in Vorarlberg, Salzburg bzw. Ober- und Niederösterreich längst gezeigt, dass sie gerne mit der FPÖ zusammengeht. „Die steirische Besonderheit wäre, dass sie laut Umfragen hier nur Juniorpartner sein könnte.“ Noch ein Unterschied zum Bund: „Hier legt die Landesverfassung fest, dass die stimmenstärkste Partei zu den Koalitionsgesprächen einzuladen hat.“ Dennoch könnten ÖVP und SPÖ einen Wahlsieger FPÖ auflaufen lassen und später Schwarz-Rot paktieren. Auch in der Steiermark würde man aber womöglich eine dritte Partei als Juniorpartner brauchen.
Dass die FPÖ laut Umfragen vor einem Wahlsieg in der Steiermark steht, ist hingegen keine Besonderheit. „Auch 2019 waren die Nationalratswahl und die steirische Landtagswahl knapp hintereinander, weil die ÖVP aus strategischen Gründen die Wahl vorgezogen hat. Damals sind die Landtagsergebnisse von ÖVP, SPÖ und FPÖ nur maximal zwei Prozentpunkte von den Bundesergebnissen abgewichen.“ So könnte es auch heuer sein.
Spielt der Finanzskandal rund um die Grazer FPÖ, es geht um die mutmaßliche Veruntreuung von Klubgeldern, keine Rolle bei dieser Wahl? „Die Sache ist seit Jahren am Köcheln, es gibt keine Anklagen, es wird ermittelt. Dadurch, dass bisher nichts rausgekommen ist, würde ich meinen, hat das keine Auswirkungen“, sagt Praprotnik.
Katrin Praprotnik
Die Politikwissenschafterin lehrt und forscht an der Universität Graz. Sie ist dort Co-Leiterin des Austrian Democracy Labs (ADL) am Zentrum für Gesellschaft, Wissen und Kommunikation. Forschungsschwerpunkte sind u. a. politischer Wettbewerb, Wahlverhalten und Koalitionen.
Stefan Karner: "Wir musealisieren unsere Erfolge"
Wie die Steiermark politisch und gesellschaftlich tickt? „Es wäre ein Leichtes, jetzt traditionell zu antworten: seit 100 Jahren bürgerlich-konservative Mehrheiten, große Wirtschaftsleistungen, Transformation von der ,alten‘ Industrie zu Hightech geschafft, boomender Tourismus, Grenzland als Aushängeschild, höchste Forschungsquoten in der EU, usw. Das ist alles richtig. Doch macht die Gesellschaft Sorge: Sie driftet auseinander entlang der Linie Leistungsträger und Hilfenbezieher. Immer mehr Menschen wollen weniger arbeiten, aber gleich gut weiterverdienen. Das wird sich nicht mehr ausgehen“, sagt der Historiker Stefan Karner.
Die Stärke der FPÖ sei „zunächst einmal auch die Schwäche der anderen Parteien, ob im Land oder im Bund, vor allem in der Kommunikation, Botschaften einfach zu verpacken. Tatsächliche und diffuse Ängste anzusprechen: Migration, die vielfach nicht gelungene Integration, der Krieg in der Ukraine. Nicht zu vergessen: Die FPÖ kann als Rückgrat auch auf deutschnationale Korporationen zählen, auch wenn sie weniger werden. Dazu kommen steirische Themen wie die Spitalsfrage in Liezen.“
Die lange Industriegeschichte des Landes spiele keine Rolle mehr, sagt der Historiker: „Aus dem billigen Stahl und aus der Kohle ist man raus, machte erfolgreich Hightech, exzellente Cluster. Jetzt darf man den Anschluss an Ostasien nicht verlieren. Derzeit gibt es riesige Probleme, die Arbeitslosigkeit liegt bei über zwölf Prozent. Singulär seit Jahrzehnten! Doch gerade die Industriegeschichte zeigt, dass schmerzlichen Veränderungen oft neuer Schwung folgt. Das war so beim Wein, bei den Thermen, nach der Krise in der Obersteiermark. Das Land hat viel kreatives Potenzial. Gerade in harten Zeiten blüht es auf.“
Doch was regt heute noch auf, wie die Avantgarde der früheren Jahre? Gegenfragen Karners: „Wo ist heute die intellektuelle Auseinandersetzung im Ringen um die beste Lösung? Wir haben eine ,City of Design‘, aber regt sie auf, wie einst die mutigen Entwürfe der Architekten? Wo kommen wir international noch über die Rampe? Wir musealisieren unsere Erfolge, ergehen uns in Vergangenheit. Wo sind die frischen, mutigen Kreativen? Der scheinbar notwendige Bachelor und dann ein möglichst ruhiger Job sind zu wenig.“
Stefan Karner
studierte Geschichte und Russisch, lehrte Geschichte an der Uni Graz. Gründer des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgenforschung. Beriet u. a. das Innenministerium betreffend das Hitler-Geburtshaus in Braunau.
Thomas Hofer: "Die Steiermark ist ein Abbild Gesamtösterreichs"
„Eine kleine Welt, in der die große – politisch – ihre Probe hält“, sei die Steiermark, sagt Politikanalyst Thomas Hofer, ein gebürtiger Steirer. „Dieses Bundesland ist ein gutes Abbild von Gesamtösterreich: größere Städte, Graz stark studentisch geprägt, Industriegebiet, länderlicher Raum. Die Steiermark ist damit oft Vorreiter für politische Phänomene, die erst später in Restösterreich ankommen. Sie ist Trendsetter, was Volatilität und Wandlungsfähigkeit anbelangt, etwa beim Kippen traditioneller Parteibindungen. Sie ist eines der wenigen Bundesländer, wo der Landeshauptmann zwischen Parteien hin und her gewechselt ist. Und sie könnte (nach dem deutlich kleineren Kärnten im Jahr 1989) das erste große Bundesland werden, das blau regiert wird.“ Hofer verweist auf starke, schillernde Persönlichkeiten aus der Steiermark: Arnold Schwarzenegger, Krone-Gründer Hans Dichand, KTM-Boss Stefan Pierer, Red-Bull-Chef Dietrich Mateschitz oder Magna-Boss Frank Stronach – „Menschen, die sich sehr speziell positioniert haben“.
Die Spitzen der Landespolitik haben ihre Position oft dadurch abgesteckt, dass sie „auf Konfrontation mit ihren Bundesparteien gegangen sind. Da gibt es einen eigenen Stil, eine bisserl rebellische Art, wider den Stachel zu löcken“.
Legendär der Widerstand in den 1980er-Jahren, als die Abfangjäger Draken in Zeltweg stationiert werden sollten. Der Schüler Hofer sollte damals in Geschichte ein Referat halten. Thema: Kann die Steiermark Österreich verlassen?
Die Antwort: Nein. Kann sie das Land heute politisch prägen? Vielleicht.
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 46/2024 erschienen.
Thomas Hofer
wurde in Judenburg in der Steiermark geboren. Er hat in Wien Kommunikationswissenschaft und Anglistik studiert, war Innenpolitikjournalist beim Profil. Daneben Studium des „Political Management“ an der George Washington University. Seit 2004 ist er als Politikberater und -Analyst tätig.