Unpolitisch waren die Olympischen Spiele nie, sagt Politikanalyst und Sportfan Peter Filzmaier. Und oft genug eine Bühne für Despoten. Er findet, man sollte diktatorische Regimes davon ausschließen, die Spiele auszurichten.
Die Olympischen Spiele gelten als friedlich und unpolitisch. Sind sie aber gar nicht, argumentieren Sie in Ihrem Buch "Olympia". Gab es eine Zeit, in der sie diesem Anspruch tatsächlich gerecht geworden sind?
Es ist eine Lebenslüge der olympischen Bewegung zu behaupten, sie wären irgendwann unpolitisch gewesen. Schon bei den antiken olympischen Spielen gab es ja die Idee des Götterfriedens, dass also zumindest für die Zeit der Spiele die Waffen schweigen sollten. Es gibt kein politischeres Ziel – im positivsten Sinne – als Frieden. In den heutigen Statuten des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) sind Frieden, Völkerverständigung und Antidiskriminierung festgeschrieben. Auch das sind Ziele, die politischer gar nicht sein könnten. Das Problem ist, dass man sich immer arrangiert hat, wenn diese Ziele von Semi- oder Antidemokraten infrage gestellt wurden.
Warum klammert man sich am Mythos der unpolitischen Spiele fest?
Weil das IOC sich ja selbst infrage stellen müsste, wenn es die eigenen politischen Ziele konsequent verfolge würde. Wir haben höchstens 70 oder 80 Demokratien auf der Welt, aber rund 200 Teilnehmerländer. Bei einem konsequenten Ausschluss antidemokratischer Staaten würde man mehr als die Hälfte der Teilnehmerländer und damit der Athleten ausschließen. Das weiß das IOC natürlich, und dadurch kommt es zu faulen Kompromissen. Wie zum Beispiel, dass russische Sportler als vermeintlich Neutrale teilnehmen dürfen. Was soll das heißen, neutral? Die russischen Grenzbehörden sind sicher nicht neutral und werden nur Regime-Befürworter anreisen lassen.
Man braucht diese Erzählung, um die Spiele überhaupt abhalten zu können?
Bei konsequenter Abschaffung der Erzählung vom unpolitischen Sport würde man die Olympischen Spiele vielleicht nicht in ihrer Existenz gefährden, aber in ihrer Größe gewaltig redimensionieren müssen. Man hat sich schon 1936 mit den Nazis arrangiert, man hat sich mit kommunistischen Regimes zur Zeit des Kalten Kriegs arrangiert. Kompromisse wird es immer geben, weil sich natürlich niemand selbst abschaffen will. Aber man könnte wenigstens einen klaren Kriterienkatalog definieren und diktatorische Regimes davon ausschließen, Ausrichterland zu werden.
Wieso eignen sich die Olympischen Spiele so gut als Bühne für Antidemokraten?
Weil sie so viel Publikum anziehen. Und natürlich wegen der Macht der Bilder. Würde es nur Radioübertragungen geben, wäre die Propagandawirkung viel geringer. Es werden bei Siegerehrungen Nationalfahnen hochgezogen, es werden die Hymnen gespielt. Politische Akteure stehen in der Ehrenloge und können sich zeigen. Sportveranstaltungen sind – bis hin zum Ersatzkrieg – ein willkommenes Propagandamittel. Ich kann den Kampf gegen andere ausrufen, ohne irgendein Risiko einzugehen. Es wird auch heuer wieder eine große Rolle spielen, ob China oder die USA die meisten Medaillen gewinnt.
Es gibt auch andere Konflikte, die brodeln. Beim Eurovision Song Contest im Mai kam es z. B. zu antisemitischen Äußerungen. Rechnen Sie damit, dass so etwas auch in Paris passiert?
Ich hoffe gewaltfrei, aber es ist davon auszugehen. Das Olympische Komitee hatte bis zu den Spielen in Tokio 2020 – die wegen Corona tatsächlich 2021 stattgefunden haben – und Peking 2022 jegliche politische Äußerung verboten. Dann hat man es ein bisschen abgeschwächt, Athleten dürfen sich jetzt in Interviews politisch äußern, aber nicht im unmittelbaren Umfeld der Bewerbe. Man ist in solchen Fragen oft ein bisschen hilflos. Das gilt für andere Bereiche auch: Es wurden schon so oft nachhaltige Spiele versprochen. In Athen 2004 zum Beispiel, wo das Olympische Dorf war, befindet sich heute eine Geisterstadt. In London 2012 hat man ganze Stadtteile geschliffen und neue Sozialwohnungen versprochen. Es ist heute ein wunderbarer Wohnort für Reiche.
In Ihrem Buch ist auch ein berühmtes Foto von den Winterspielen in Peking abgebildet. Eine Snowboard-Schanze direkt vor dem heimeligen Ambiente des Kühlturms eines ehemaligen Stahlwerks ...
In Albertville 1992 hat man für ein einziges Rennen eine Abfahrtspiste in den Berg gesprengt, obwohl sich sozusagen schräg gegenüber, in Val d’Isere, seit Jahrzehnten eine Weltcup-Abfahrtspiste befindet. Das nicht strikt abzulehnen, wäre Doppelmoral. Andererseits, ich bin wie viele auch Sportfan und will da nicht fundamentalistisch sein. Zwei Seelen wohnen in meiner Brust.
Sie formulieren am Ende Ihres Buchs zehn "olympische Probleme". Halten Sie es für realistisch, irgendeines davon aus der Welt zu schaffen?
Fangen wir in unserem Gespräch doch vor der eigenen Haustür an. Wenn Medien kritischer über Olympia berichten würden, wäre das schon ein wichtiger Schritt.
Passend dazu: Olympische Spiele in Zeiten der Krise
Nur bei Spielen in Russland und China, oder z. B. auch in Frankreich?
Bei allen Spielen selbstverständlich. Man muss anerkennen, dass Paris sich bemüht hat, bestehende Sportstätten zu nutzen, anstatt alles neu zu bauen. Der Elchtest für die Nachhaltigkeit werden die Schwimmstrecken der Triathleten, die in der Seine sind. Bei vorolympischen Bewerben im Vorjahr mussten diese abgebrochen werden, weil Bakterien auf einige Sportlerinnen und Sportler dramatische Auswirkungen hatten. Man muss natürlich auch die Kosten hinterfragen, oder wie die Bevölkerung einbezogen wurde.
Kritischere Medienberichterstattung über solche Aspekte könnten die Olympischen Spiele verbessern?
Ich habe einen Punkt herausgegriffen, der nicht nur in den Händen des IOC liegt. Natürlich braucht man Akkreditierungen, aber das IOC würde sich schwertun, Journalisten aus demokratischen Ländern wie Österreich diese Akkreditierung zu verweigern. Eine Frage wäre auch, kann man, um nicht Mega-Events in Abhängigkeit von Großsponsoren zu haben, Spiele zeitgleich an unterschiedlichen Ort der Welt stattfinden lassen? Oder – aber das wäre kaum mehrheitsfähig – die Olympischen Spiele finden jedes Mal in Athen statt und alle fördern das mit, damit Griechenland finanziell nicht überfordert wird.
Schaden die diversen politischen Probleme den Olympischen Spielen?
Nehmen sie ihnen ihren Reiz? Ich habe für mich einen Weg gefunden, dass ich mit leuchtenden Augen und glühenden Ohren einen Sportwettbewerb mitverfolgen und doch gleichzeitig den kritischen Blick hinwenden kann. Als ich während der Spiele in Tokio um drei Uhr in der Früh aufgestanden bin, um mir euphorisiert die 400-Meter-Hürdenläufe anzuschauen, habe ich nicht über Politik nachgedacht. Aber es bleibt anschließend genug Zeit, auch die großen Zusammenhänge zu reflektieren. Und das gilt für Medien genauso. Wir sprechen ja jetzt auch über Sport und Politik, und beides geht sich in derselben Zeitung aus.
Sogar auf derselben Seiten. Gehen sich der Sportfan und der Politikexperte Peter Filzmaier auch gut nebeneinander aus oder unterscheiden sie sich stark voneinander?
Ich erlebe meinen Beruf als Politikanalytiker als extrem spannend und möchte auch nichts anderes tun. Aber mit leuchtenden Augen und glühenden Ohren mitverfolgt habe ich das Ibiza-Video nicht. Und, ich verstehe ja im sportlichen Sinn von einer einzigen Sportart etwas, das ist Langstreckenlauf. Das habe ich einmal gemacht, das kann ich sogar wirklich kommentieren. Wenn ich zu anderen Sportarten etwas sage, bin ich Fan. Mit gefährlichem Halbwissen, wie alle Fans. Und da leiste ich mir natürlich Subjektivität.
Wie erklären Sie jemandem, der nicht so sportaffin ist wie Sie, die Faszination des Hochleistungssports?
Es gibt zwei Arten von Faszination, je nach Sportart. Das eine ist, wenn Athleten etwas machen, was wir auch machen. Laufen, Schwimmen, Radfahren. Das heißt, ich kann es nachvollziehen und weiß, wie unglaublich ihre Leistung ist. Ich habe diese Wette schon mehrfach angeboten, Medaillengewinnern bei Staatsmeisterschaften ausgenommen: Wer einen Kilometer in der durchschnittlichen Geschwindigkeit des Marathon-Weltrekords läuft – 2 Minuten 50 Sekunden –, dem zahle ich sehr gerne einen Abend lang sein Bier.
Hat schon jemand die Wette angenommen?
Bisher haben mich nur Leute darauf angesprochen, die irgendwann bei Staatsmeisterschaften Medaillen gewonnen haben. Ich war selbst engagierter Hobbyläufer. Die drei Minuten hätte ich geschafft, die 2,50 wahrscheinlich nicht mehr. Und das zu einer Zeit, als ich noch ganz gut war.
Welche ist die zweite Faszination?
Das sind Sportarten, wo man sich fragt, wie geht das überhaupt? Wie kann man das machen und überlebt es? Dazu gehört Skispringen, aber auch Hürdenlauf oder Stabhochsprung. Wie ist es möglich, mit dem Stab über eine sechs Meter hohe Latte zu kommen? Sechs Meter, das sind zwei Stockwerke.
Wie begehen Sie persönlich die Olympischen Spiele, nehmen Sie sich frei?
Im Sommer sind meine Chancen, viel zu sehen, noch am höchsten. Urlaub ist wegen des intensiven Wahlherbstes abgeschafft, aber im Büro läuft dauernd der Fernsehern mit. Und am Abend zu Hause sowieso.
Olympia: Die Spiele als Bühne für Sport und Politik. Peter Filzmaiers Analyse der Olympischen Spiele in seinem neuen Buch.
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 29/2024 erschienen.
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