80 Jahre nach dem Holocaust verlieren wir die letzten Zeitzeugen
Auf zwei Stoplersteinen, eingemauert in den Gehsteig vor einem Haus in der Praterstraße im 2. Bezirk in Wien, ist Folgendes zu lesen: Ernestine Sichrovsky, geb. Strauchbaum am 31.12.1880, am 17.8.1942 nach Maly Trostinez deportiert, am 21.8.1942 ermordet. Agnes Sichrovsky, geb 29.10.1924, am 17.8.1942 nach Maly Trostinez deportiert, am 21.8. 1942 ermordet. Was hier nicht steht, dass die jüdischen Männer Gruben ausschaufeln mussten und die Mutter und Schwester meines Vaters durch Kopfschüsse ermordet wurden.
Erinnerung
Ich gehöre zur 2. Generation, die nach dem Krieg geboren wurde. Aufgewachsen mit den Erlebnissen und Erinnerungen der Überlebenden. Meine Eltern konnten rechtzeitig nach England flüchten. Meine Mutter aus Prag mit einem gefälschten Taufschein. Mein Vater aus Wien. An der Grenze zu Belgien verhaftet, schmuggelte ihn ein deutscher Offizier über die Grenze und rettete ihm das Leben. Zwei mutige Menschen, die sich nicht an die Vorschriften hielten, sind die Grundlage meiner Existenz.
Mit dieser Botschaft wuchsen meine Kinder auf, die 3. Generation. Ich war nie Opfer, wie meine Eltern, Großeltern, Tanten, Onkeln und all die Freunde und Verwandten, denen man auch den Stolz des Judentums genommen hatte. Zwei Generation später gibt es kaum noch Kontakte zu Überlebenden, der Schrecken und die Trauer der 1. Generation verlieren sich langsam, verschwinden jedoch nicht.
Was andere Kinder in der Schule lernten, in Filmen sahen und in Büchern gelesen hatten, war für meine Kinder Familiengeschichte. Bei einem Besuch in Auschwitz fand einer meiner Söhne im Archiv den Namen seiner eigenen Urgroßmutter, der Mutter meiner Mutter.
Die 3. Generation hat einen neuen Lebenswillen entwickelt, eine neue Form der Selbstverständlichkeit, erträgt das oft aufgesetzte Mitleid nicht mehr und trotzt der Kritik. Als wäre das Überleben der wenigen Vorfahren ein Auftrag, jüdisches Leben wieder aufzubauen und zu verteidigen. Die jungen jüdischen Frauen und Männer sind zukunftsorientierter als die 2. Generation, die knöcheltief und oft bewegungslos in der Vergangenheit steckt.
Israel
Einige Cousins und Cousinen meiner Kinder in Israel, Kinder der Verwandten, die nach dem Krieg nach Israel auswanderten, haben den Militärdienst absolviert, wurden nach dem 7. Oktober wieder einberufen. Manche von ihnen waren direkt in Gaza eingesetzt.
Das Selbstbewusstsein der Frauen und Männer im israelischen Militär symbolisiert vielleicht am besten die Identität der 3. Generation, der Enkelkinder der Überlebenden. Die historische Veränderung innerhalb zweier Generationen vom Holocaust-Opfer zur Verteidigung der eigenen Heimat und der Solidarität mit Israel. Natürlich gibt es unter ihnen Kritiker des politischen Systems und der Kriegsführung Israels, doch es ändert nichts an der Loyalität gegenüber Israels Bevölkerung.
Die Piloten in den israelischen Kampf- Flugzeugen, die am Jahrestag der Befreiung von Auschwitz über das Lager flogen, sind das wohl eindrucksvollste Symbol des Schwurs der 3. Generation: Nie wieder!
Seit 18. September widmet das Jüdische Museum in Wien dem Thema 3. Generation eine Ausstellung.