Der Complexity Science Hub in Wien ist eine österreichische Forschungseinrichtung, die sehr unösterreichisch ist: internationale Exzellenz, unbürokratische Zugänge und konkrete Lösungen für Zukunftsprobleme stehen hier im Mittelpunkt. Ein Besuch am jüngst bezogenen neuen Standort, einem Fin-de-Siècle-Palais in Wien.
Zunächst sieht man nur einen einfachen Klingelknopf. „CSH“ steht klein daneben, als wär‘s ein gewöhnlicher Nachname. Dann, wenn die Tür sich geöffnet hat, ein langer, immer noch unspektakulärer Gang, der durch das Vorderhaus führt. Und dann auf einmal das Palais und seine fast absurde Märchenpracht: ein überdachter Zufahrtsbereich, Marmortreppen hinauf in den Vorraum, pastellfarbene Seidentapeten an den Wänden, alte Kachelöfen, Stuck. Das Palais Springer-Rothschild wurde in den 1890ern in historischem Stil errichtet – ein nostalgischer Traum, schon damals, der nicht perfekt renoviert wurde, sondern in schickem Ausmaß shabby aussieht.
Ausgerechnet hier ist seit einigen Wochen eine der zukunftsweisendsten Forschungseinrichtungen Österreichs untergebracht. Der Complexity Science Hub. Hier, im dritten Wiener Bezirk, denken die besten Köpfe über die drängendsten Zukunftsprobleme nach.
Im holzvertäfelten früheren Männersalon – dunkles Holz, die Stofftapeten etwas mitgenommen, eine schlichte, weiße Designerlampe als Kontrast – erklärt der Physiker und Komplexitätsforscher Stefan Thurner, seit der Gründung Präsident des CSH, wie es dazu kommen konnte, dass ausgerechnet in Wien – Österreich – so ein visionäres, ehrgeiziges Projekt an den Start gebracht wurde.
Forschung nach Wien
Alles begann, erzählt Thurner, mit einem schwedischen Professor, dem es Anfang der 2010er-Jahre gelang, die Technische Universität in Singapur innerhalb kürzester Zeit zu einer der internationalen Top-Universitäten zu machen. Indem er auf innovative neue Felder setzte. Er trug sich mit der Idee, auch in Europa Zentren für Complexity Science zu errichten – um anschließend die größten Talente nach Asien zu holen. Die österreichische Politik war interessiert, kam aber ins Grübeln. Ob man so etwas vielleicht auch ohne Singapur schaffen könnte?
Damit kam Bewegung in die Sache. Persönlichkeiten wie Michael Häupl, Hannes Androsch, die frühere TU-Rektorin Sabine Seidler, Wolfgang Knoll, damals Chef des AIT (Austrian Institute of Technology) und Helga Nowotny setzten sich dafür ein, ein Zentrum für die Erforschung komplexer Zusammenhänge in Wien zu gründen. „Die gemeinsame Erkenntnis war, dass wir in Österreich nicht genügend Talente für die digitale Bewältigung der Zukunft haben“, erklärt Thurner. „Und dass es daher notwendig ist, eine Umgebung zu schaffen, in der innovative Leute jene Sachen entwickeln, die am Ende gesellschaftsverändernd funktionieren. Eine Plattform für starke Individuen aus der ganzen Welt, die gemeinsam die Welt neu denken.“
Der Complexity Science Hub wurde 2015 von mehreren österreichischen Universitäten und Forschungseinrichtungen als Verein gegründet und startete 2016 den Betrieb. Bei der thematischen Schwerpunktsetzung und Auswahl der Forschenden ist das Institut unabhängig. Thurner trifft die Entscheidungen gemeinsam mit einem Scientific Advisory Board, das aus zehn weltführenden Wissenschaftlern besteht: Ziel sei es, erläutert Thurner, internationale Kapazunder nach Wien zu holen, die mit einem eigens für sie zusammengestellten Team an konkreten Problemen arbeiten.
Stichwort Lösungsorientiertheit. „Mir kommt vor, dass man seit den 1960ern in der Wissenschaft immer mehr davon abkommt, Probleme zu lösen. Natürlich ist es im Vorhinein immer schwierig zu sagen, ob Forschung zu etwas führen wird. Oft kommt am Ende etwas ganz anderes heraus als das, was man eigentlich erforschen wollte. Aber wenn es disziplinenweise und jahrzehntelang zu nichts führt und sich dann noch dazu die Zeiten ändern, dann geht es einfach zu langsam,“ kritisiert Thurner den traditionellen universitären Betrieb. Die großen Probleme der Zeit
Bei der Auswahl der Forscherinnen und Forscher, die an den Complexity Science Hub geholt werden, orientiere man sich an den großen Frage- und Problemstellungen der Zeit, erklärt Thurner.
„In der Welt ändert sich extrem viel. Wir haben zum einen die demografische Wende: In zwei Generationen, also noch vor Ende des Jahrhunderts, ist nur mehr die Hälfte der Europäer da. Möglich, dass man das mit Migration ausgleichen kann, aber was ist, wenn niemand kommen will? Weil es politisch zu unsympathisch ist, zu heiß oder weil man lieber in das boomende Afrika geht. Das ist ein Riesenproblem.“
Dazu komme, sagte Thurner, „dass die Fähigkeiten der Menschen in der Gesellschaft zumindest nicht größer werden. Ich weiß nicht, ob es an den Handys liegt, an den Familienstrukturen oder am Bildungssystem, aber die Fähigkeiten, das Rechtssystem, das Steuersystem, den öffentlichen Verkehr, die öffentliche Sicherheit und so weiter in Schwung zu halten, werden abnehmen. Die Frage ist also: Wie erhalten wir das System mit weniger, schlechter ausgebildeten Leuten, ohne unseren Lebensstandard zu reduzieren?“ Neben den Problemen des demografischen Wandels und der sinkenden Qualifizierung bilden die Klimakatastrophe und die Bedrohung der Demokratie den Hintergrund für die (Zukunfts-)Arbeit, die am Complexity Science Hub geleistet wird. Vier große Herausforderungen, für die Lösungen gesucht werden. Und weil die Problemstellungen so konkret sind, sind auch die Forschungsbereiche so konkret, dass sich selbst Laien etwas darunter vorstellen können.
Wie erhalten wir das System in Zukunft mit weniger, schlechter ausgebildeten Menschen?


Die großen Probleme der Zeit
Bei der Auswahl der Forscherinnen und Forscher, die an den Complexity Science Hub geholt werden, orientiere man sich an den großen Frage- und Problemstellungen der Zeit, erklärt Thurner.
„In der Welt ändert sich extrem viel. Wir haben zum einen die demografische Wende: In zwei Generationen, also noch vor Ende des Jahrhunderts, ist nur mehr die Hälfte der Europäer da. Möglich, dass man das mit Migration ausgleichen kann, aber was ist, wenn niemand kommen will? Weil es politisch zu unsympathisch ist, zu heiß oder weil man lieber in das boomende Afrika geht. Das ist ein Riesenproblem.“
Dazu komme, sagte Thurner, „dass die Fähigkeiten der Menschen in der Gesellschaft zumindest nicht größer werden. Ich weiß nicht, ob es an den Handys liegt, an den Familienstrukturen oder am Bildungssystem, aber die Fähigkeiten, das Rechtssystem, das Steuersystem, den öffentlichen Verkehr, die öffentliche Sicherheit und so weiter in Schwung zu halten, werden abnehmen. Die Frage ist also: Wie erhalten wir das System mit weniger, schlechter ausgebildeten Leuten, ohne unseren Lebensstandard zu reduzieren?“ Neben den Problemen des demografischen Wandels und der sinkenden Qualifizierung bilden die Klimakatastrophe und die Bedrohung der Demokratie den Hintergrund für die (Zukunfts-)Arbeit, die am Complexity Science Hub geleistet wird. Vier große Herausforderungen, für die Lösungen gesucht werden. Und weil die Problemstellungen so konkret sind, sind auch die Forschungsbereiche so konkret, dass sich selbst Laien etwas darunter vorstellen können.
Lieferketten und Resilienz
Eine Forschungsgruppe beschäftigt sich zum Beispiel mit Lieferketten, erklärt Stefan Thurner, und Fragen wie: „Sind diese Lieferketten effizient und resilient? Wo sind ihre Schwachstellen? Wie kann ich Lieferketten so verändern, damit die ganze Wirtschaft fairer wird? Wie kann ich sie verändern, damit sie weniger CO2 ausstößt? Wenn man anfängt, die Welt in Lieferkettenbeziehungen zu sehen, kann man die ganze Ökonomie neu denken.“
Ein anderes Team arbeitet am Verständnis von Resilienz. Ganz verkürzt: Wie geht ein System – ein Netzwerk – kaputt und wie repariert es sich wieder selbst? Eine dritte Arbeitsgruppe befasst sich mit Möglichkeiten, das Gesundheitssystem zu verbessern. Denn, sagt Thurner, „jedes Mal, wenn ein Patient das Gesundheitssystem nutzt, gibt es eine Datenzeile. Die Diagnose, das Datum der Diagnose, das verschriebene Medikament und so weiter. Diese Daten könnte ich verwenden, um die Gesundheits- und Krankengeschichte jeder Person aufzuschreiben. Wenn ich all diese Geschichten vergleiche, kann ich Muster erkennen: Ich sehe, was gewirkt hat und was nicht. Ich kann beginnen, Gruppen zu clustern. Ich kann auf einmal wunderbar vorhersagen, wie sich ein Krankheitsverlauf wahrscheinlich weiterentwickeln wird, und ich kann ganz andere Diagnosen stellen. Das Gesundheitssystem wäre billiger, effizienter und weniger fehleranfällig.“ Schade nur, dass diese Informationen in Österreich für die Forscher nicht verfügbar sind – und sie deswegen mit schwedischen und dänischen Daten arbeiten müssen.
Dass die Bereitschaft des offiziellen Österreich, auf die wissenschaftlichen Erkentnisse des Complexity Science Hub flexibel und unbürokratisch zu reagieren, generell zu wenig ausgeprägt sei, möchte Thurner aber nicht sagen. „Wir arbeiten derzeit mit sieben Ministerien und mehreren öffentlichen Einrichtungen an der Lösung von konkreten Problemen. Wir haben natürlich auch keine Patentrezepte, aber oft hilft es schon sehr viel weiter, wenn man gemeinsam auf die vorhandenen Daten schaut und versucht, das System möglichst wirklichkeitsnah abzubilden.“
Beharrungskräfte
Auch in Österreich, sagt Thurner, gebe es Menschen, die verstehen, dass man ab und zu etwas Neues machen muss. „Aber die Beharrungskräfte sind sehr stark. Wir haben zum Beispiel großartige Unibudgets, bei denen jedoch viel Ballast mitgeschleppt wird. Damit man etwas Neues machen kann, muss man aber ab und zu etwas Altes zudrehen, und das ist in Österreich wahnsinnig schwierig.“ Denn derzeit, kritisiert Thurner, werden hohe Mittel eingesetzt, um Österreichs Studierende irgendwie durchs Studium zu bringen – anstatt begeisterte Innovatoren aus ihnen zu machen, die an konkreten Zukunftsherausforderungen arbeiten. „Und das ist wahnsinnig schade.“
Aber immerhin gibt es den Complexity Science Hub, der – auf den ersten Blick unscheinbar und im verblichenen Prunk einer vergangenen Epoche – versucht, die Zukunft neu zu denken.
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 13/25 erschienen.