Die eine Stadt ist die weltweite Mobilitätshochburg, die andere eine erst fünf Jahre junge Retortenstadt: Shenzhen und Lingang in China verbindet, das man sich ansehen kann, in welchem atemberaubenden Tempo technologische und wirtschaftliche Zukunft geschrieben wird – und nicht nur hier.
Wo einst Reisfelder standen, verläuft heute eine Kilometer lange Asphaltstraße. Die Lingang Avenue in der gleichnamigen Stadt vor den Toren von Shanghai, führt vorbei an futuristischen Wolkenkratzern und trostlosen, aber gigantischen Hochhaussiedlungen. Vorbei an Flüssen, Brücken und Parkanlagen. Sie endet an einem riesigen See, den 200 Meter hohen Zwillingstürmen der Bank of China und einem üppig dimensionierten „Promotion Center“. Willkommen in Lingang. Willkommen im Silicon Valley von China.
Wirtschaftsdelegationen aus der ganzen Welt geben einander hier die Türklinke in die Hand. Denn in der chinesischen Sonderzone kann man ein Gespür dafür bekommen, wohin die Reise in Sachen Technologie, Wirtschaft und Innovation geht – mit viel staatlicher Kraftanstrengung und in atemberaubender Geschwindigkeit. China pumpt Milliarden in seine speziell geförderten Industrie-und Wirtschaftszonen. Lingang, eine Retortenstadt, die mit 873 Quadratkilometern fast doppelt so groß wie Wien ist, wurde im August 2019 gegründet und zählt zu den modernsten ihrer Art. Die bisherigen Meilensteine zeigt man folglich gerne her: 2019 Spatenstich für die Tesla-Gigafactory, 2022 Start der Flugzeugproduktion und Bau eines LNG-Terminals. 2025 geht Tesla mit einer Megapack-Fabrik – produziert werden leistungsstarke Batterien in Schiffscontainergröße – an den Start. Halbleiter- und Wasserstoffindustrie haben sich hier angesiedelt wie Unternehmen aus dem Anlagenbau, Biomedizin und Pharma. Es gibt Forschungseinrichtungen für Energiespeicherung und KI-Technologie und natürlich einen Industriecluster für alternative Antriebe und autonomes Fahren. Mit Wasserstoff angetriebene Lkw werden bereits produziert, Busse kommen als Nächstes dran.
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Schnell und günstig
Momentan leben in Lingang 600.000 Menschen. Eine Million sollen es bis 2025 sein. Das Erfolgsrezept? Viel Platz für Ansiedlungen und Forschungslabore, eine bestens ausgebaute Infrastruktur von IT über Windräder entlang des Küstenstreifens hin zu einem nahezu vollautomatisierten Tiefseewasserhafen sowie eine ausgeklügelte Förderungspolitik mit reduzierten Steuersätzen bei Ansiedlung. Schnelligkeit spielt freilich auch eine Rolle. Die Tesla- Fabrik wurde in weniger als einem Jahr gebaut.
Angelockt werden sollen aber auch Touristen. Noch heuer wird eine Indoor- Snowworld mit Skiliften eröffnet, die das Pendant in Dubai von den Dimensionen her in den Schatten stellen soll. Ein riesiges Hotel ist bereits fertig. Es folgen ein Ocean- Park, Planetarium, Museen und ein Jachthafen. Transportiert werden Bewohner und Touristen u. a. in autonom fahrenden Bussen, die derzeit noch mit überschaubaren 20 km/h durch die Retorenstadt fahren. Geordert werden sie via App. Aktuell sind zehn autonom fahrende Busse unterwegs. Nächstes Jahr sollen es 25 sein. Noch sitzt ein Mensch hinter dem Steuer. Doch die Hände in den blütenweißen Handschuhen, greifen nur in Ausnahmefällen in das Lenkrad. Wer nicht mit dem Bus fahren will, kann sich eines der Fahrräder am Straßenrand ausborgen. Betrieben werden sie testweise mit Wasserstoff.
873 Quadratkilometer ist die Retortenstadt Lingang groß. Sie wurde 2019 gegründet und gilt als das Silicon Valley von China
1 Million Kameras und Sensoren wurden an Kreuzungen in Shanghai verbaut, um den Verkehr zu überwachen und autonomes Fahren zu ermöglichen
20 Millionen Einwohner zählt aktuell Shenzhen, die Welthauptstadt der Mobilität. Das Durchschnittsalter liegt bei 29 Jahren
In einer eigenen Liga in Sachen Mobilität spielt das rund 70 Kilometer entfernt liegende Shanghai. 6,6 Millionen Passagiere werden hier an einem Tag durch die Metropole mit ihren 30 Millionen Einwohnern transportiert – in Echtzeit ablesbar auf einem überdimensional großen Screen im Transportation Commanding Center. An einem Dienstag Nachmittag sitzen gerade 83 Prozent der Menschen, die auf den Straßen unterwegs sind, in der Metro, eine Million auf einem Fahrrad, 1,6 Millionen in Autos oder Taxis. Eine Zahl zeigt an, wie viele Menschen auf eine Metro warten, eine andere, wie viele sie in dieser Sekunde verlassen. Es flimmert. Es blinkt. Zahlenstränge klettern in Echtzeit nach oben und unten. Big Data ist hier mehr als nur ein Schlagwort.
Aufgesetzt wurde das System 2010 im Vorfeld der Weltausstellung Expo in Shanghai. Die Idee: einem möglichen Verkehrs-Supergau durch eine bessere Steuerung der Verkehrsströme zu entgehen. Rund eine Million Sensoren und Kameras wurden über die Stadt verteilt verbaut. „In so einer Vernetztheit habe ich das noch nie gesehen“, sagt Gudrun Senk, Geschäftsführerin der Wiener Linien, die sich mit einer Wirtschaftsdelegation der Stadt Wien vor Ort umgesehen hat. Gerade wird auf der Leinwand ein Unfall angezeigt. Der 31. an diesem Tag. Noch bevor Einsatzkräfte ausrücken, können die Mitarbeiter im Überwachungsraum sich die Lage vor Ort genau anschauen. Per Knopfdruck und indem sie in das Verkehrsgeschehen hineinzoomen – bis hin zum Fahrersitz.
„Schutz von Daten ist wichtig“
GUDRUN SENK, GESCHÄFTSFÜHRERIN WIENER LINIEN
Die Mobilität in China aus Sicht der Geschäftsführerin der Wiener Linien: Welches Fazit ziehen Sie?
Es ist spannend, zu sehen, was im Mobilitätsbereich passiert. Auch in Wien setzen wir auf genau diese Themen – etwa im Bereich der Antriebstechnologien. Hierzulande heißt es zum Beispiel oft: Wasserstoff ist eine Nischentechnologie. In Lingang bei Shanghai fahren sogar Fahrräder damit.
Und beim autonomen Fahren?
In Lingang fahren Busse autonom. Die technologische Herausforderung ist eine gewaltige. Das geht auch in China nicht so einfach. Dort gibt es Teststrecken und abgegrenzte Gebiete, die autonomen Busse sind aber noch mit einem Menschen als Sicherheitsperson hinter dem Steuer unterwegs. Dieser kann eingreifen, falls die Technik noch nicht alle Situationen beherrscht. In Europa sind wir zwar noch nicht so weit, wir setzen uns aber intensiv mit den neuen Entwicklungen auseinander. Vieles wäre bei uns aus Datenschutzgründen derzeit so nicht möglich.
Zum Beispiel?
Etwa die komplette Steuerung des Verkehrssystems bis zum Hineinzoomen in ein Fahrzeug. Aber die Technologieentwicklung ist extrem beeindruckend. Auch die Bereitschaft, neue Dinge auszuprobieren. In Lingang fahren zehn autonome Busse; nächstes Jahr sollen es 25 sein.
Wie viele fahren in Aspern?
Wir hatten in der Seestadt von 2017 bis 2021 einen Test – mit einer Technologie, die noch nicht bereit für einen umfassenden Einsatz war. Wir überlegen ein Nachfolgeprojekt. Das autonome Fahren könnte eine wichtige Ergänzung für die letzte Meile vom Wohnort zur nächstgelegenen U-Bahn sein. Wenn die Menschen sehen, dass es für sie einen Vorteil bringt, werden sie rasch umsteigen. Und: Bisherige Versuche zeigen, dass die Unfallhäufigkeit beim autonomen Fahren geringer ist. In Lingang erfassen Kameras bereits rund 250 Meter vorher, wenn ein Hindernis auf der Straße sein sollte.
Wie schnell kann das gehen?
Wir sprechen da über einen Zeithorizont von mindestens einem Jahrzehnt. Einerseits brauchen wir eine ausgereifte Technik, andererseits müssen wir uns intensiv mit der Verwendung von Daten auseinandersetzen. Schließlich geht es um den öffentlichen Raum, und der Schutz von Personendaten ist ein wichtiges Gut. Eine Vielzahl von europäischen Pilotversuchen wurde zeitlich nach hinten geschoben, weil es derzeit noch sehr wenige verfügbare Fahrzeuge in Europa gibt. Fahrzeughersteller gehen nicht in Produktion, bevor nicht jemand mehrere Hundert Stück bestellt. Zum Testen braucht man aber nur zwei, drei Fahrzeuge. Als Europa müssen wir hier aber unbedingt dranbleiben.
Autonom fahrend durch Shanghai
Die an jeder Kreuzung in Shanghai verbauten Kameras und Sensoren, Entfernungsmesser und Radare braucht es auch für das autonome Fahren, das Huwawei testet und der Wirtschaftsdelegation aus Wien in der Rush Hour vorführt. Zehn Kameras sind hierfür in dem luxuriösen Elektro-SUV Aito M9 von Huawei verbaut. 250 Meter im Voraus können so Hindernisse erkannt werden. Fehlerfrei schlängelt sich der schicke Sechssitzer autonom – aber auch hier mit einem Fahrer hinter dem Steuer – durch den dichten Verkehr der Metropole. Einstweilen nur für Demonstrationszwecke. Längst gibt es aber in Shanghai definierte Bezirke, wo offiziell autonom gefahren werden kann.
Vieles im Bereich Verkehrstechnologie funktioniert freilich nur, weil Datenschutzbedenken von vornherein ausgeblendet werden. Das zeigt sich auch in der zwei Flugstunden entfernten Metropole Shenzhen, eine der jüngsten – das Durchschnittsalter liegt bei 29 Jahren – fortschrittlichsten und innovativsten Städte der Welt. Die Welthauptstadt der Mobilität wurde binnen 40 Jahren zur Metropole mit 20 Millionen Einwohnern ausgebaut. Neue Produkte treffen hier auf ein experimentierfreudiges Publikum. Das E-Auto ist ein Massenprodukt. Auch Drohnen sind längst im Alltag der Menschen angekommen – etwa für Essenlieferungen oder zur Überwachung. Die Vespa schlampig am Fahrbahnrand abgestellt? Eine schlechte Idee, vor allem in jenem Bezirk in Shenzhen, wo derzeit Drohnen das Verkehrsgeschehen überwachen. Der Hinweis auf das Handy, die Vespa umzuparken, kommt jedenfalls prompt.
Bedenken und Vereinbarungen
„Dieses Steuerungsthema ist eines, das China über die Jahrhunderte verfolgt hat und es jetzt mit Hightech-Produkten noch einmal ein Stück weiter entwickelt“, sagt Wiens Finanzstadtrat Peter Hanke. „Im Vergleich dazu ist es gut, dass wir in Österreich und in Europa die Datenschutzthematik so eng sehen. Es muss Spielregeln geben.“ Hanke hat in Shanghai, Shenzhen und Hongkong gemeinsam mit Gerhard Hirczi, Geschäftsführer der Wiener Wirtschaftsagentur, eine Vielzahl von Absichtserklärungen unterschrieben, die in den Bereichen Smart City, Photovoltaik, Batterie-und Speicherlösungen eine Zusammenarbeit sichern sollen. „Die Leistungsstärke dieser Strukturen ist die Zukunft. Da gibt es in China spannende Ansätze“, sagt Hanke.
Hanke war aber auch vor Ort, um mit Hirczi chinesischen Start-ups Wien als Standort gschmackig zu machen. Im Gepäck hatte er das Vienna Start-up Package, das u. a. mit einem vierwöchigen Aufenthalt in Wien verbunden ist. Vier Gründer haben sich im Hongkonger Science Park der Jury gestellt. Gewonnen hat am Ende eine Gründerin, die sich im Hightechland China einem recht irdischen Thema widmet und unverkaufte Brotreste sammelt, um daraus ein Craftbier zu brauen. Abfallvermeidung statt technischem Schnickschnack. Gut möglich, dass sich dafür auch österreichische Investoren begeistern lassen.
„Sehen uns als Toröffner für Europa“
PETER HANKE, WIENER STADTRAT FÜR WIRTSCHAFT UND FINANZEN
Herr Hanke, müssen wir unser Bild von China ändern?
Ich persönlich war das letzte Mal vor 20 Jahren hier und hatte damals das Gefühl, dass man sich zwar schnell, aber klar nach den Zielen Europas richtet. Dieses Bild hat sich vollständig gedreht. Es geht nicht um ein Kopieren, sondern es geht um Innovationsführerschaft. Diese Innovationsführerschaft in den Technologien ist hier klar zu spüren. Es sind natürlich die Umstände und die politischen Systeme, die eine so schnelle Veränderung ermöglichen. Das ist für Europa nicht erstrebenswert. Aber die Tatsache, dass es China geschafft hat, mit Shenzhen in weniger als zwei Jahrzehnten eine Schwesternstadt vor den Toren von Hongkong mit 21 Millionen Menschen zu etablieren, ist ein unglaubliches Unterfangen. Es stehen zwei unterschiedliche chinesische Systeme auf dem Prüfstadt. Wohin es geht, ist noch nicht entschieden. Die persönliche Freiheit, das persönliche Tun wird in einer so starken IT- und KI-Lastigkeit für die Menschen vor Ort sehr, sehr schwer möglich sein. Wir haben in Europa einen anderen humanistischen Ansatz gewählt. Den müssen wir auch verteidigen. Aber der muss verteidigt werden, indem wir uns weiterentwickeln.
Sie sind mit einer Wirtschaftsdelegation hier. Was will man von China lernen?
Mit einer Wirtschaftsdelegation wie der Wirtschaftsagentur kommt man hierher, um primär Werbung für den Wirtschaftsstandort zu machen, damit IT-Firmen, Innovationsfirmen und KI-Firmen auch den Weg nach Europa finden. Wir sehen uns als einen Toröffner für Europa. Wien bietet aufgrund der uns bekannten Vorzüge gute Optionen, die von in China ansässigen Unternehmen, die am Sprung nach Europa sind, genutzt werden können. Es geht darum, Wien auf die oberste Treppe zu stellen.
Wien hat sich bereits auf das Thema Smart City gesetzt. Was kann man sich von einer digitalisierten Stadt wie Shenzhen abschauen?
In vielen Digitalisierungsthemen gehen wir eigentlich in ähnliche Richtungen. Die Überschneidung der Systeme ist in China aber eine ganz andere und würde mit dem Datenschutz, so wie wir ihn zum Glück leben, nicht passen. Aber wir sehen, dass es natürlich reizvoll ist, einen digitalen Zwilling einer Stadt anzulegen. Das macht Shenzhen. Das macht Wien. Eben weil Stadtentwicklung auf dieser Basis viel effizienter und klarer funktioniert. Im Vergleich zu China würde ich es aber natürlich ablehnen, wenn die Überschneidungsdichte der Strukturen so hoch wird, dass das Private und das Individuum auf der Straße eine Einteilung erfahren, die man selbst gar nicht wahrnimmt, die aber gesteuert ist. Dieses Steuerungsthema ist eines, das China über die Jahrhunderte verfolgt hat und es jetzt mit Hightech-Produkten noch einmal ein Stück weiterentwickelt. Im Vergleich dazu ist es gut, dass wir in Österreich und in Europa die Datenschutzthematik so eng sehen. Es muss Spielregeln geben.
Sie haben auch Vereinbarungen unterschrieben? Welche?
Wir haben Absichtserklärungen unterschrieben, die eine Zusammenarbeit im Bereich der innovativen Weiterentwicklung von Grundsystemen sicherstellt. Das ist konkret mit fünf Projekten und einem intensiven Austausch Experten unterlegt, klarerweise bei dem für uns so wichtigen Thema Smart City. Aber auch bei Themen wie Photovoltaik, Batterielösungen und Speicherlösungen. Die Leistungsstärke dieser Strukturen ist die Zukunft. Da gibt es in China spannende Ansätze.
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 24/2024 erschienen.