Chicago: Nach ewig fehlenden Lehrern begann eine Schülerin, zu unterrichten
Auf halbem Weg zwischen dem Zentrum von Chicago und O’Hare International Airport gleitet die ewig flache, achtspurige Autobahn durch ein Viertel mit niedrigen Einfamilienhäusern, mehrstöckigen, rötlichen Ziegelbauten und einem wunderbaren Park in der Mitte dieser Vorstadt, dem Humboldt Park. Mit 50 Prozent Hispanics und 35 Prozent Schwarzen einer der ärmsten Bezirke von Groß-Chicago. Die Arbeitslosigkeit ist doppelt und die Mordrate etwa siebenmal so hoch wie der US Durchschnitt.
1974, während der Eröffnungsreden der High-School „Roberto Clemente Community Academy“ versprachen Politiker ein Zentrum für Bildung in diesem vergessenen Viertel. Innerhalb weniger Monate verloren die schönen Worte ihre Bedeutung. Fehlende finanzielle Unterstützung und kriminelle Banden rund um die Schule holten die Realität in den Alltag. Lehrmaterial, Sporteinrichtungen und letzten Endes auch Anzahl der Lehrer und Lehrerinnen litten unter Budgetkürzungen. Waren es im Schuljahr 2019/2020 noch 57 Lehrkräfte, unterrichten 2023/2024 nur noch 23. Wochenlang fällt der Unterricht aus. Schüler und Schülerinnen schaffen die Jahresabschlussprüfungen nicht.
Mathematik
Als der Mathematiklehrer im zweiten Schuljahr, vergleichbar mit der fünften Klasse unseres Gymnasiums, wieder drei Wochen nicht erschien, die Vertretung keine Mathematik anbieten konnte, beschloss die 15-jährige Carolina Carchi, die Sache selbst in die Hände zu nehmen. Sie liebte Naturwissenschaften und Mathematik, bestellte über einen Buchversand weiteres Lehrmaterial, und erklärte der Klasse nach ein paar Tagen Vorbereitung: „Die haben auf uns vergessen, ich werde jetzt Mathematik unterrichten.“ Die Klasse war einverstanden. Nachmittags kopierte Carolina die Erklärungen in einem FedEx-Office, verteilte sie am nächsten Morgen, und gemeinsam studierte die Klasse die nächsten Kapitel des Lehrbuchs.
Es dauerte zwei Monate, bis der Direktion auffiel, dass die Klasse keinen Ersatz-Unterricht hatte. Der Skandal ging durch die Medien, der Schulinspektor kam und inspizierte und sagte: „In den vielen Jahren habe ich noch nie erlebt, dass eine Klasse mit so viel Begeisterung und Eigenverantwortung den Unterricht einfach fortsetzt
Chemie
An der katastrophalen Situation des Unterrichts änderte sich jedoch wenig. Ein Jahr später fiel wochenlang der Unterricht in Chemie aus. Es dauerte vier Monate bis ein Ersatzlehrer gefunden wurde. Als er die Klasse betrat, stand Carolina an der Tafel und erklärte eben H₂O, die Formel für Wasser. Der Lehrer konnte ohne Zeitverlust den Unterricht fortsetzen.
„Wir alle verehren Carolina“, sagte Sabrine, eine Mitschülern, „nur durch sie konnten wir letztes Jahr die Jahresabschlussprüfung in Mathematik, und heuer in Naturwissenschaften schaffen.“ Carolina, der ein Platz in einer Privatschule angeboten wurde, in einer besseren Gegend und mit einem Stipendium, sagte in einem Interview: „Ich bleibe hier, ich habe hier viele Freunde, und sie brauchen mich, wenn es wieder keinen Unterricht gibt.“