Wir begrüßten einander freundlich in einem Café in Wien. Er stellte sich als Gary W. vor, Journalist einer britischen Tageszeitung, recherchiere in Deutschland, Österreich und Ungarn, um über den - wie er es beschrieb - sich dramatisch entwickelnden Antisemitismus zu berichten. Ich sei ihm empfohlen worden, da ich über das Thema bereits publiziert hätte, ein Fachmann sei, sozusagen, und außerdem gut Englisch sprechen würde.
Ich sei kein Fachmann, sagte ich ihm gleich zu Beginn unseres Gesprächs, er solle sich lieber an die jüdische Gemeinde wenden, die könnte ihm eher weiterhelfen. Er lachte und sagte: "Ich habe einen Bekannten in Wien, er hat in London studiert, er hat vorgeschlagen, dich zu treffen. Dann sagte er noch, ich sollte mich nicht abwimmeln lassen, du seist nicht unbedingt der 'freundlichste unter den Wiener Juden' - so hatte er es formuliert." Nun musste ich lachen und sagte, wir könnten es ja versuchen.
Gemeinde
"Wie lebt es sich so in Wien als Jude?", fragte er, und ich bereute bereits, dem Interview zugestimmt zu haben. "Ich verstehe die Frage nicht", antwortete ich. Er sah mich erstaunt an. "Das muss doch einen Einfluss auf dein Leben haben, wenn die jüdische Gemeinde über die Häufigkeit der Angriffe klagt." "Es hat einen Einfluss, mich hat jedoch weder jemand attackiert noch wegen meines Judentums beschimpft, höchstens wegen meiner Frechheiten", sagte ich. Er lächelte höflich. "Heißt das, er existiert kaum, der Antisemitismus?", fragte Gary. "Natürlich gibt es den, von allen Seiten, es ist wie eine dieser modernen Duschen, das Wasser kommt von überall, und man weiß nie, von wo", sagte ich, diesmal lachte Gary. "Wenn ich morgens aufstehe, kann ich mich entscheiden, was mich mehr aufregt, der Rassismus und die Verharmlosung des Holocaust der Rechten, die Leugnung des islamischen Judenhasses und Bewunderung der palästinensischen Terroristen als Freiheitskämpfer durch die Linken, und jetzt kommt noch dazu, dass israelische Politiker als Faschisten bezeichnet werden."
"Aber dich persönlich betrifft es nicht?", fragte er. Ich dachte kurz nach. Wie sollte ich es ihm erklären? "Ich bin vorsichtiger geworden", sagte ich. "Was meinst du mit vorsichtig?", fragte er. "Vor Fremden, vor Menschen, die ich nicht kenne, versuche ich es manchmal zu verbergen, das Judentum." "Ist das nicht schrecklich, so ein Verhalten?", fragte Gary.
Anpassung
"Schrecklich? Was ist schon schrecklich", sagte ich, "wir sind keine Opfer wie unsere Vorfahren, wir leben mit einer vererbten Anpassungsfähigkeit, in der ständigen Bewertung realer Verhältnisse, was möglich, was nicht möglich ist, wir wagen uns vor, ziehen uns wieder zurück, waren einst bestimmte Berufe verboten, wählten wir andere, verjagte man uns aus bestimmten Stadtvierteln, zogen wir in andere, zwang man uns, das Land zu verlassen, und raubte unser Eigentum, fingen woanders neu an."
"Gibt es also doch eine aktuelle Bedrohung?", fragte Gary. Ich wollte ihm nicht zustimmen, er drängte mich in die Opferrolle, die ich hasste. "Als erkennbarer Jude kannst du nicht in bestimmte Viertel der Stadt gehen. Wenn der Bürgermeister sich am Brunnenmarkt am syrischen Stand beim Mittagessen zeigt, um zu beweisen, wie offen die Stadt ist, wirst du dort keinen Juden mit Kippa oder in der Kleidung der Orthodoxen sehen. Die ziehen sich in die Josefstadt zurück." "Heißt das, Juden können sich nicht frei bewegen in der Stadt?", fragte er.
"Ja und nein", antwortete ich, "es ist das Ghetto im Kopf, ich sehe es an mir selbst, als 'nicht erkennbarer' Jude. Ich trug einen Anhänger, einen Davidstern, wie viele Juden, den hab ich ausgetauscht gegen einen Schriftzug, der nicht sofort als jüdisch erkennbar ist. Erzählt einer einen jüdischen Witz, reagiere ich nicht wie früher, dass er falsch erzählt sei und der Erzähler aufhören sollte, das alte Jiddisch nachzuahmen, es klinge einfach lächerlich, ich schweige lieber. Vergleicht man das Vorgehen der israelischen Armee gegen Palästinenser mit den Verbrechen der Wehrmacht, such ich nach einer Ausrede, um zu verschwinden. Bei bestimmten Themen weiche ich Konfrontationen aus, halte mich mit Kommentaren zurück, gebe mich unter Fremden nicht zu erkennen." "Das klingt nach Flucht", sagte Gary.
Flucht
"Man fühlt sich fremd und unverstanden und zieht sich zurück", sagte ich, "es kommt oft überraschend, scheinbar harmlos, zum Beispiel mit der Bemerkung 'wie damals', wenn Rassismus heute mit der NS-Zeit gleichgesetzt wird. Ich sehe dann meine Großmutter, die Mutter meines Vaters, und seine 14-jährige Schwester, wie sie nackt vor einer Grube stehen, die Arme schüchtern vor ihren Brüsten verschränkt, und ein deutscher Soldat ihnen von hinten in den Kopf schießt. Wer 'wie damals' sagt, hat nicht solche Bilder im Kopf."
Gary stammelte etwas von "I am sorry". Er tat mir plötzlich leid. Ich versuchte, die Situation zu retten. "Warum schreibst du nicht über die Normalität des Lebens der Juden und weniger über Schmerz und Leid?", fragte ich ihn. "Wie meinst du das? Man kann es doch nicht ignorieren", sagte er. "Natürlich nicht, doch es existiert ein jüdischer Alltag in Wien", sagte ich, "die offizielle Gemeinde bemüht sich mit Filmfestivals, jüdischen Kulturwochen, Straßenfesten. Es gibt jüdische Fußballmannschaften und Tennisvereine, jüdische Schulen und einen jüdischen Chor. Schreibt doch nicht ständig über den Hass gegen uns." "Aber das ist doch notwendig, es muss aufgezeigt werden", sagte Gary.
Polemik
"Es wird oft nur benutzt, als politische Polemik, willkürlich und zufällig, oder als erschreckende Realität, doch wer soll damit erschreckt werden? Ihr vergesst dabei, es ist unsere Vergangenheit, von der wir nicht loskommen. Ein antisemitischer Vorfall erinnert den Kritiker nicht an seine Vorfahren, die vielleicht bei der SS waren, für ihn sind es und waren es die anderen, die Nazis eben. Uns erinnert es an Mord und Flucht der eigenen Familie, der Familien unserer Freunde, jener, die neben uns in der Synagoge stehen."
Gary schwieg. Wir hatten den Kaffee, den wir bestellt hatten, nicht getrunken und er war inzwischen kalt. Dann sagte Gary: "Du lässt mich ziemlich hilflos zurück."
"Ich möchte, dass du dir überlegst, was es bei uns auslöst, wenn du über den Hass gegen uns schreibst", sagte ich, "wie es in unser Leben eingreift. Antisemitismus hat nur zwei Dimensionen - Kritik und Mitleid, die Aggression der Täter und die furchterregende Wirklichkeit der Opfer. Mit der Kritik der Täter drängst du uns in die Opferrolle, stiehlst uns den Alltag. Jüdische Frauen, Männer und Kinder, ob liberal, konservativ oder orthodox, leben in einem Raum, den wir als Sicherheitszone definieren, wir reduzieren uns selbst, manche geografisch, manche, indem sie ihre Identität verbergen. Mit Mauern, die wir nach außen schieben oder zurücknehmen. Verlassen wir die Sicherheitszone, müssen wir überlegen, ob es Sinn macht, uns einer möglichen Gefahr auszusetzen."
Mauern
"Gibt es denn überhaupt so etwas wie Hoffnung?", fragte Gary. Ich nickte und antwortete: "Ihr müsst uns helfen, die Mauern nach außen zu verschieben, unsere Sicherheitszone zu vergrößern. Vielleicht geht der Bürgermeister das nächste Mal mit einer Gruppe orthodoxer Juden auf den Markt, wo Araber ihre Produkte anbieten, und zeigt, dass sie unter seinem Schutz stehen." Gary lachte und sagte: "Eine glänzende Idee!""Ja, vielleicht", sagte ich, "wird nur nie passieren."
"Was können wir als Journalisten tun?", fragte er. "Schreibt über das Leben jenseits der Klischees, über Muslime, die tolerant gegenüber dem Judentum sind, über Rechte, die Rassismus ablehnen, über Linke, die den Staat Israel respektieren und den palästinensischen Terror verurteilen, dass Regierungen in Israel gewählt und abgewählt werden können, dort keine faschistoide Diktatur entsteht. Öffnet uns Türen zu Bereichen der Gesellschaft, die wir, vielleicht aus übertriebener Vorsicht meiden, macht uns nicht ängstlich, nehmt uns die Angst."