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Angst vor dem großen Krieg

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©Foto von Timon Studler auf Unsplash
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Ein Jahr nach dem brutalen Terrorangriff der palästinensischen Hamas eskaliert Israels Krieg gegen Terrorgruppen in der gesamten Region. Es droht ein potenziell verheerender Konflikt mit dem Iran

Nachdem das Regime in Teheran am 1. Oktober 181 Raketen auf den „Erzfeind“ Israel abgefeuert hat, rüstet sich die Islamische Republik für den zu erwartenden heftigen Gegenschlag. Hektische Hamsterkäufe in den Supermärkten, kilometerlange Schlangen vor den Tankstellen: Im Iran ist die Panik vor einer militärischen Eskalation mit Israel seit Tagen nicht mehr zu übersehen. Die ­Ladungen von Frachtern in den Häfen werden eilig gelöscht, um wichtige Waren und Rohstoffe vor möglichen Angriffen in Sicherheit zu bringen. Das Regime sperrt bereits Sonntagnacht den Luftraum für zivile Maschinen. Im Staatsfernsehen werden zu diesem Zeitpunkt Aufnahmen von Raketenabschussrampen auf Lastfahrzeugen gezeigt, die aus Bunkeranlagen geholt und in Position gebracht worden waren.

Irans Raketenangriff auf Israel war der schwerwiegendste in der 76-jährigen Geschichte des Landes, vor allem im Zentrum Israels hatte es einen Angriff dieser Dimension noch nie gegeben. Das Hauptquartier des Auslandsgeheimdienstes Mossad und mehrere militärische Stützpunkte wurden ins Visier genommen. „Der Angriff richtete zwar nur wenige Schäden an, doch das Potenzial war enorm, wenn die präzise gesetzten Treffer geglückt wären“, betont Amos Harel, ein Journalist, der zu den führenden Militärexperten in Israels Medien zählt. Bereits im April waren der Iran und Israel erstmals in einen direkten Konflikt geraten. Anders als zu diesem Zeitpunkt wird nun aber befürchtet, dass es nicht bei einem kurzen Schlagabtausch bleibt. „Wir haben das Recht und die Pflicht, uns zu verteidigen“, betont Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu: „Die gesamte Bedrohung Israels geht in Wahrheit vom Iran aus.“

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Im Zentrum: Irans greiser Führer Ali Khameini dirigiert den Einsatz zahlreicher Terrorgruppen gegen Israel

 © AFP/Picturedesk.com

Schläge und Gegenschläge

Der Angriff gegen Israel gilt als Reaktion der Islamischen Republik Iran auf den Tod Hassan Nasrallahs, des Chefs der libanesischen Hisbollah-Miliz. Diese Terrorgruppe und ihr Boss gelten als die engsten Verbündeten des Regimes in Teheran. Nasrallah starb am 27. September bei einem gewaltigen Luftschlag von Israels Armee gegen das Hisbollah-Hauptquartier in Libanons Hauptstadt Beirut. Das war der Auftakt eines Luftkriegs gegen den Libanon, der binnen weniger Tage das Leben von mehr als 2.000 Menschen gekostet hat. Ein Fünftel der Bevölkerung des Libanons ist auf der Flucht. Nach Bombenangriffen auf den zentralen Grenzübergang nach Syrien ist das Land faktisch isoliert, die Menschen in dem von zahlreichen Krisen bereits schwer havarierten Staat sind im nächsten Alptraum gefangen. Flüge sind kaum noch möglich, denn Israels Luftangriffe konzentrieren sich vor allem auf den Süden Beiruts: Hier hat die Hisbollah ihre Hochburg. Und hier liegt der internationale Flughafen.

Seit Beginn des israelischen Kriegs gegen die Hamas im Gaza-Streifen hat die mit dieser Gruppe verbündete Hisbollah-Miliz Israel vom Norden aus mit Raketen und Drohnen unter Beschuss genommen. Mitte September änderte Israels Führung die Gangart und geht seither massiv gegen die Terrorarmee im Libanon vor. Damals detonierten mutmaßlich von Israel manipulierte Pager und Funkgeräte der Hisbollah, Dutzende starben und 3.000 Kämpfer der Miliz wurden an Händen und Augen schwer verletzt. Auch der iranische Botschafter in Libanon war betroffen. Nun eskalieren die Kämpfe massiv. Mit bis zu tausend Luftangriffen versuchte Israels Armee seither, die Miliz außer Gefecht zu setzen, bereits 400 der Kommandanten dürften tot sein – so sind auch mögliche Nachfolger des Langzeit-Führers Nasrallah umgekommen.

Ein Kampf an vielen Fronten

Israel ist tief in einen Mehrfrontenkrieg gegen das Regime in Teheran und Terrorarmeen in der gesamten Region verstrickt, die faktisch unter dem Kommando des Irans stehen. Die Islamische Republik unterstützt seit Jahrzehnten sowohl die palästinensische Hamas als auch die Hisbollah im Libanon, aber auch irakische Terrorgruppen und die Huthi-Miliz im Jemen. Auch in Syrien sind Kämpfer aktiv, die vom Iran hochgerüstet wurden. Dabei handelt es sich um ein schiitisches Söldnerheer, rekrutiert in der gesamten Region, das vor über einem Jahrzehnt zur Unterstützung des syrischen Präsidenten Bashar al-Assad aufgebaut worden ist.

Insgesamt sind es Hunderttausende Kämpfer, die auf das Kommando des Irans hören. Sie haben allesamt einen Treueeid auf Ali Khamenei, den Obersten Führer der Islamischen Republik, abgelegt. Er gilt als zentraler Akteur in diesem Konflikt und hat das letzte Wort bei allen zentralen Entscheidungen der iranischen Führung. Sein Kurs bestimmt auch die Aktionen der Iran-treuen Milizen. „Wenn es nötig erscheint, werden wir Israel mit weiteren Schlägen angreifen“, kündigte er am Wochenende an.

Laut einer Analyse des Expertenteams des „Center for Strategic and International Studies“ steht die gesamte Region am Rande eines Kriegs. „Mit jedem direkten Schlagabtausch zwischen Israel und dem Iran wird diese Gefahr größer.“ Diese Entwicklungen zeigen, dass eine neue, hochgefährliche Ära des Nahen Ostens begonnen hat.

Der 7. Oktober 2023 als Zäsur

Deren Anfang markierte der barbarische Terrorangriff von Tausenden Hamas-Terroristen auf israelische Dörfer und ein Musikfestival in der Wüste. Er erschütterte die Region wie ein Erdbeben, dessen Schockwellen noch massiv weiterwirken. Der 7. Oktober 2023 gilt jetzt schon als ein historischer Meilenstein, der die Geschichte des Nahen Ostens in ein Davor und ein Danach teilt.

An diesem Tag durchbrachen circa 3.000 Kämpfer der Extremistengruppe Hamas, flankiert von Angehörigen an­derer Gruppen und Mitläufern, den Hochsicherheitszaun zwischen Gaza und Israel. Es war ein lang vorbereiteter Terrorangriff, mutmaßlich mithilfe des Irans vorbereitet. Über 1.200 Menschen wurden brutal ermordet, zu Tode gefoltert, in ihren Häusern verbrannt, mehr als 250 wurden verschleppt. Darunter Babys und gebrechliche Senioren. Nicht alle haben das Jahr überlebt. 16 wurden jedenfalls kaltblütig ermordet. Wohl knapp mehr als hundert der Geiseln befinden sich noch in Gaza, mit Sicherheit am Leben sind aber nur 39, wie Vertreter der Angehörigen berichten.

Das Schicksal der Geiseln

Am ersten Jahrestag des Hamas-Überfalls verstärkten Familien der Geiseln ihre Demonstrationen, blockierten Verkehrsknotenpunkte in Tel Aviv. „Hinter uns liegt ein Jahr, in dem die politische Führung weder zu einer klaren Strategie noch zu einem klaren Kurs gefunden hat“, übte Gal Goren in einer Rede harte Kritik. Seine Eltern waren Geiseln, sie starben in Gaza. „Wie kann man von einem Sieg gegen die Terroristen sprechen?“, rief er in die Menge, wenn gleichzeitig israelische Soldaten für nichts sterben würden und jene Israelis, die aus dem Süden und dem Norden evakuiert werden mussten, nicht in ihr Zuhause zurück könnten. Solche Worte illustrieren die tiefe Angst, die Israel prägt, nämlich: wieder und wieder angegriffen zu werden. „Wie kann es sein, dass wir schon wieder den 7. Oktober schreiben, der Tag hat nie aufgehört“, versucht die Historikerin Fania Oz-Salzenberger das Gefühl zu beschreiben, das Israels Bevölkerung nicht loslässt: unsicher zu sein, ständig in Gefahr.

Die militärischen Erfolge Israels können politisch wenig verändern. Nach wie vor ist unklar, wie der völlig zerstörte Gaza-Streifen nach dem Krieg verwaltet und regiert werden soll. Das Territorium wurde ab 2006 von der Terrorgruppe Hamas politisch und militärisch kontrolliert. Wer soll nun dieses Vakuum füllen? Auf diese zentrale Frage fehlt eine überzeugende Antwort. Dies gilt auch für den Libanon, wo die Hisbollah-Miliz zum dominierenden Faktor geworden ist. Wer rückt hier nach? Dazu stellt sich langfristig auch die Frage: Wenn ein massiver Angriff auf den Iran, das 86-Millionen-Land, die dortige Führung nachhaltig in Bedrängnis bringt, wie wird es hier weitergehen?

Seit Jahren protestieren Iranerinnen und Iraner gegen das Diktat der Islamischen Republik, doch die Angst vor einem Zerfall des Landes bremst einen regelrechten Aufstand. Das Horrorszenario des Bürgerkriegs in Syrien und die Gewalt im Irak nach dem Ende der Herrschaft von Saddam Hussein sorgen für Zurückhaltung. Geschwächt ist das iranische Regime, dessen Stabilität vom 85-jährigen Langzeitführer Ali Khamenei garantiert wird. Würde er sterben, wäre die Zukunft der Islamischen Republik in Frage gestellt.

Der Iran sucht seine Stärke

Ari Shavit, Autor mehrerer Bücher zur Geschichte Israels, schreibt in einer Analyse, die er zum Jahrestag des 7. Oktober 2023 veröffentlichte: „Der Master-Plan des Iran war eindeutig. Israel sollte zerstört werden, dieser ‚Sieg‘ sollte den Grundstein für die Dominanz des Staats in der Region legen, damit er so zu seiner alten Macht als Imperium zurückfindet.“ Die Allianz mit Terrormilizen, die Israel direkt bedrohen, galt als Grundpfeiler dieser Strategie. Wenn diese militärisch besiegt sind, bedeutet das aber nicht, dass die Strategie des Regimes in Teheran gescheitert ist. „Es besteht die Gefahr, dass Irans Feuerring, der mit den verbündeten Milizen geschaffen wurde, von einer neuen Strategie abgelöst wird: Der Iran könnte den immer engeren Schulterschluss mit Russland und China als neues Schutzschild nutzen“, meint Nahostexperte ­Nicholas Heras vom „New Lines Institute“: Die geopolitischen Konsequenzen eines Angriffs auf den Iran würden unter dieser Bedingung noch gefährlicher.

Zudem droht die Gefahr einer Atom-Macht Iran. Bislang beharrt dessen Führung darauf, dass sie nukleare Aktivitäten einzig mit dem Ziel verfolge, sie zur Energieerzeugung zu nutzen. Eine Darstellung, die von Fachleuten bezweifelt wird, angesichts der Tatsache, dass Uran in großen Mengen so stark angereichert wird, dass der Iran nur wenige Wochen brauchen würde, um über waffenfähiges Material zu verfügen. Gibt die Führung der Islamischen Republik grünes Licht, würde das Land rasch über eine Atombombe verfügen. Ab dann würde jeder Angriff auf den Iran das Risiko einer nuklearen Eskalation bergen.

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 41/2024 erschienen.

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Das Buch: In ihrem neuen Buch "Nahost verstehen" erklärt die Journalistin Petra Ramsauer umfassend die Wurzeln der Krisen und Konflikte in dieser Region. Verlag: edition a

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