Es ist der heißeste Tag des Jahres. Andreas Babler radelt im St.-Pauli-T-Shirt durch "seine" Stadt. Natürlich gehören Städte oder Länder den Politikern nicht, auch wenn einige von ihnen das gerne hätten. Aber in diesem Fall: Babler ist Traiskirchen, Traiskirchen ist Babler, diese Gleichung hat sich in den Köpfen vieler Österreicher festgesetzt.
Sein Traiskirchen also: knapp 20.000 Einwohner, ehemaliger Standort der Semperit-Reifenwerke, größtes Flüchtlingslager Österreichs. 2015 wurde Babler mit 73,1 Prozent zum Bürgermeister gewählt, fünf Jahre später mit 71,53 Prozent bestätigt. Er machte aus der traditionellen sozialdemokratischen Hochburg eine rote Stadt mit Modellcharakter. Beobachter sprechen von einem "linken Mekka" oder, spöttischer, "knallroten Bullerbü".
Dass Babler nicht nur groß redet, sondern auch tut, hat sich bis in die westlichen Winkel des Landes durchgesprochen. Letzten Herbst ließ er Luftfiltergeräte in hundert Traiskirchner Schulklassen und Kindergartengruppen einbauen, im Frühling Freiluftklassen errichten, anstatt auf Initiativen aus dem Bildungsministerium zu warten. Traiskirchen ist anders und will anders sein. "Die Zugänge, die wir probieren, müssen ja nicht in unserer Kommune bleiben", sagt Babler. "Dass wir offiziell links oder sozialistisch sind zum Beispiel. Früher hat uns die FPÖ als Linkslinke beschimpft, heute spielen wir selber damit. Es ist doch auch für die Partei wertvoll, zu zeigen, wie es gehen kann. Wir haben dabei eine wichtige Rolle." Denn die ganz großen Fragen, Privatisierungsdruck, Erderwärmung, Fluchtbewegungen, meint Babler, "betreffen uns hier eigentlich viel mehr als in der Bundespolitik. Weil es sich konkret auf die Menschen auswirkt."
Arbeiterkind
Andreas Babler, der überall nur Andi genannt wird, kurvt in Richtung Freibad. Vorbei an Sozial-und Genossenschaftswohnungen in beschaulicher Grünlage und an zwei modernen Spielplätzen. " Irgendeinen Preis haben wir vor Kurzem dafür bekommen", weiß er. Babler hat es nicht eilig. Am Abend steht ein Umtrunk mit Genossen auf dem Programm, nächste Woche Urlaub. Er grüßt hier, bleibt da kurz stehen, um zu tratschen. Definiere das Gegenteil des weißhemdigen Löwelstraßen-Bürokraten.
Als Kind und Enkelkind von Semperit-Arbeitern stand der gelernte Maschinenschlosser selbst in der Fabrik, bevor er in die Politik ging. Sein Einsatz für menschenwürdige Zustände in der "Erstaufnahmestelle Ost", wie es offiziell heißt, brachte ihn 2015 in die nationalen Schlagzeilen -und nicht zum ersten Mal in Widerspruch zur Bundes-SPÖ, die wenig tat, um in Traiskirchen zu helfen. Den Rücktritt von SPÖ-Kanzler Werner Faymann 2016 begrüßte er und meldet sich seitdem als mahnende Stimme immer wieder zu Wort. Warum die Meinung des Bürgermeisters der 29.-größten Stadt Österreichs irgendwen interessieren sollte? Vielleicht wegen der 71,53 Prozent. Vielleicht, weil Babler mehr Enthusiasmus ausstrahlt als die letzten fünf SPÖ-Obleute zusammen. Vielleicht, weil er klare Wort findet.
Zum Thema Migration zum Beispiel. "Die Leute spüren, dass es einen Anspruch gibt, der uns unterscheidet. Nämlich dass wir mit den vielen auf der Seite leben. Schau dich um. Das sind Leute, deren Eltern auch irgendwann Gastarbeiter waren. Ist doch überhaupt kein Problem. Wir haben dieselben Bedürfnisse. Wir gehen, wenn's heiß ist, ins Bad, wir gehen, wenn's schön ist, aufs Weinfest, wir wollen haben, Diese Sprache dürfte auch dazu beigetragen haben, dass Babler durch die Flüchtlingskrise 2015 kam, ohne Wählerstimmen zu verlieren. Er analysiert: "Man unterschätzt die Sehnsucht der Leute nach Politikern, die Haltung zeigen."
Braucht die SPÖ einen harten Kurs in Sachen Migration, wie ihn z. B. Burgenlands Hans Peter Doskozil fordert? "Nein, sie braucht einen harten Kurs in Sachen humanistische Grundgesinnung, dann stellt sich das Thema ganz anders dar."
Selbstdarsteller
Ankunft im Freibad. Es ist richtig heiß und es ist richtig viel los. Babler grüßt sich durch die Liegewiesen. "Kannst' mir einen Baum pflanzen?", fragt eine Dame, die keinen Schattenplatz mehr gefunden hat. Bei einer Gruppe Schwimmschulkinder bleibt Babler stehen. "Bist du der Bürgermeister?", kräht ihm ein Fünfjähriger entgegen. "Jo, der bin i", bestätigt Babler milde. Eine Bilderbuchszene kommunaler Volksnähe.
Das Interview will Babler im Freibadcafé geben. Der Bürgermeister ist nicht nur leidenschaftlicher Sozialist, sondern auch begnadeter Selbstdarsteller. Politik zwischen Badehose und Pommes rot-weiß statt Hinterzimmergetuschel im Innenstadtpalais. Woran also "danke, Daniel, der Eiskaffee schaut wirklich guat aus" liegt es, dass sich die österreichische Sozialdemokratie trotz einladendster globaler Themenlage selbst im Weg steht, anstatt durch die Decke zu gehen?
"Die Pam", meint er, also Parteichefin Pamela Rendi-Wagner, "räumt auch oft ab für Dinge, die sie nicht selbst verantwortet, für eine fehlende Kommunikationsstrategie und Demokratisierung der Partei. Natürlich trägt sie Mitverantwortung, aber es gibt in ihrem Umfeld Leute, die sich seit den 70-, 80er-Jahren einbunkern. Dieser Politikstil ist einfach aus der Zeit gefallen."
Mit der Personalie Rendi-Wagner setze die Frage nach der Krise der SPÖ aber viel zu kurz an, meint Babler. Das Hauptproblem seien die Entideologisierung der Partei und die Entkoppelung von der Basis. "So ist auch die Passivität der SPÖ zu erklären. Wir gehen zwar manchmal in parlamentarische Gefechte, um Verschlechterungen zu verhindern, bringen aber überhaupt keine offensive Alternativgestaltung der Gesellschaft ein."
Den Aufruf, sich als Partei weniger mit sich selbst zu beschäftigen, finde er "völlig daneben", sagt Babler. "Wir sollten uns viel mehr mit uns selbst beschäftigen, allerdings nicht auf der Personenebene, sondern indem wir selbstkritisch hinterfragen, welche Existenzberechtigung die Sozialdemokratie nach 130 Jahren noch hat."
Grundkonflikt
Zurück zu den Wurzeln also. Wer sind wir und was wollen wir überhaupt? Babler hat seinen Marx gelesen. Der Grundkonflikt, der die historische Arbeiterbewegung befeuerte, sei bis heute nicht gelöst. "Wir haben immer noch 3,5 Millionen unselbstständige Erwerbstätige, die ihre Arbeitskraft verkaufen, und auf der anderen Seite den Profit, der davon abgeschöpft wird. Es ist heute alles komplizierter geworden, aber das Grundprinzip, der alte Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital, aus dessen Analyse wir kommen, ist gleich geblieben."
Die SPÖ, sagt Babler, habe mit den rasanten Entwicklungen der letzten Jahrzehnte nicht mithalten können. "Es spitzt sich alles schon so zu, dass man sich jedes Mal denkt, das gibt's doch nicht. Es geht doch nur mehr darum: Wie bringt man auf den Punkt, wofür wir alternativ stehen? Wieso treten wir nicht konsequent gegen die Zerstörung der Lebensgrundlagen in Form von Naturressourcen ein? Oder gegen Armut im Bildungsbereich?"
Die SPÖ, findet Babler, müsse konsequent Politik für Menschen machen, die von gleichberechtigter Teilhabe an der Gesellschaft ausgeschlossen sind. Egal, ob sie zu ihrer traditionellen Klientel gehören. "Es ist doch völlig wurscht, ob du im klassischen Industrieproletariat arbeitest oder im Supermarkt hackelst, auch erst um halb neun rauskommst, wechselnde Dienste hast und jede zweite Woche nicht weißt, wo du dein Kind hingeben kannst. Bei dieser Erweiterung, was heißt lohnabhängig und unselbstständig arbeiten heute, ist die SPÖ nicht stark präsent."
Begrifflichkeitsänderungen
Der reine Kanzleranspruch sei da viel zu wenig. "Es kann ja nicht der Anspruch sein, Kanzlerpartei zu sein und dann nichts zu verändern. Wie war es beim letzten Mal? Wir waren in der Regierung, und was dabei herausgekommen ist, waren Begrifflichkeitsänderungen. Beim ersten Mal waren wir für die Millionärssteuer, beim zweiten für die Vermögenssteuer, beim dritten Mal wieder für die Millionärssteuer. Bei drei Wahlkämpfen haben wir immer das Wort getauscht. Als Kampfansage, als Grundbedingung für jegliche Koalition. Dann haben wir das dreimal nicht gemacht. Na klar glaubt dir das kein Mensch mehr, wenn du es beim vierten Mal plakatierst."
Der Ausweg aus der derzeitigen Misere? Eine Demokratisierungsoffensive, schlägt Babler vor. "Wir haben in Traiskirchen aufgemacht, auch gegen Widerstände. Wir haben Leute am Stadtparteitag teilnehmen lassen, die sich einfach registriert haben, egal ob Parteimitglied oder nicht. Bitte, wenn wer zum SPÖ-Stadtparteitag gehen will, interessiert ihn das Thema wirklich. Auf Bundesebene gibt es keine Bereitschaft, Direktwahlen einzuführen. Bis hinunter zur Bezirksebene, wo die Bezirkskaiserinnen und -kaiser - mehrheitlich Männer - ihre Delegierungen im alten System herumpackeln wollen."
Daniels Eiskaffee ist gut, aber aus, und der Bürgermeister muss noch kurz zurück ins Amt, bevor der heitere Teil des Abends beginnt. Und heiter wird er, 75-Prozent-Debakel hin oder her. Er verstehe nicht ganz, wie es zu diesem Ergebnis für Rendi-Wagner beim Parteitag kommen konnte, sagt Babler, aber es bedrückt ihn nicht sehr. "Ich mache weiter. Ich bin in der Sozialdemokratie organisiert, weil ich dafür raufe, dass sich eine bestimmte Orientierung durchsetzt. Mir geht's darum, zu wecken." Sprach's und schwang sich aufs Rad. Meine Stadt, mein Straße, mein Zuhause, meine Parteizentrale. Noch viel zu tun in dieser kleinen Welt, in der die rote Zukunft ihre Probe hält. Vielleicht.
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der Printausgabe von News (28+29/2021) erschienen.