Der Bundespräsident steht in der Kritik: Er habe Kickl zu einer Märtyrerrolle verholfen, weil er ihn bei der Regierungsbildung übergangen habe. Das ist jedoch nur die halbe Wahrheit
Bundespräsident Alexander Van der Bellen hätte die Regierungsbildung anders aufsetzen können. Sehr wahrscheinlich wäre jedoch das Gleiche herausgekommen: Am Ende wäre der Auftrag an Karl Nehammer (ÖVP), den Obmann der zweitstärksten Partei, gegangen. Herbert Kickl (FPÖ) wäre leer aus, aber als Märtyrer hervorgegangen, der von einem breiten Unverständnis darüber profitiert, dass er als Vertreter der stärksten Partei ausgegrenzt wird.
Natürlich: Schon vor eineinhalb Jahren hatte Van der Bellen deutlich gemacht, dass er sich Kickl im Falle des Falles in den Weg stellen wird. Jetzt hatte er jedoch jemanden, der ihm dabei behilflich war: Karl Nehammer teilte mit, dass er Kickl „nicht den Steigbügelhalter“ machen werde. Damit war klar, dass der FPÖ-Chef keine Regierung mit Mehrheit auf parlamentarischer Ebene bilden kann.
Wozu ihn also beauftragen? ÖVP-Vertreter wie der scheidende steirische Landeshauptmann Christopher Drexler meinen, um ihn sichtbar scheitern zu lassen. Ob das aufgegangen wäre, ist jedoch fraglich: Kickl hätte es durchschaut und Nehammer mit Angeboten umworben, die es diesem schwermachen, beim „Nein“ zu bleiben. Nicht zuletzt, um das Kanzleramt zu behalten, wäre er es wohl trotzdem. Folge: Ein erheblicher Teil der öffentlichen Meinung wäre erst recht auf der Seite Kickls gewesen.
Das grundsätzliche Problem ist ein anderes: Van der Bellen hat unterschätzt, wie viel notwendig ist, um mehr Menschen davon zu überzeugen, was gegen Kickl spricht. Dabei hätte schon das Nationalratswahlergebnis ein Zeichen sein können: Obwohl etwa Nehammer Sorgen um Demokratie, Europa und die Russlandpolitik unter Kickl äußerte, wählte am 29. September eine relative Mehrheit die FPÖ. Sprich: Nehammer ist damit nicht durchgekommen.