Seit dem Rücktritt des deutschen Nationalspielers Mesut Özil berichten Menschen unter dem Hashtag #MeTwo ihre Erfahrungen mit Alltagsrassismus in den sozialen Medien. Ein Thema, das in unserer Gesellschaft dauerpräsent ist, wie etwa auch Chemnitz jüngst zeigte oder die Tatsache, dass die UNO unlängst ankündigte, die Situation von Flüchtlingen in Österreich zu überprüfen. Ein Experte auf diesem Gebiet ist Lukas Gottschamel von der Beratungsstelle ZARA - Zivilcourage und Anti-Rassismus-Arbeit. Er erklärt im Interview, was jeder einzelne gegen Rassismus im Alltag tun kann, ob Rassismus mehr geworden ist und ob ein Chemnitz auch in Wien denkbar wäre.
Sie haben täglich damit zu tun: Ist Rassismus im Alltag mehr geworden?
Lukas Gottschamel: Ich kann nicht sagen, ob es mehr geworden ist, ich kann nur sagen, dass die bei uns gemeldeten Vorfälle seit 2013 kontinuierlich gestiegen sind. Natürlich ist das keine repräsentative Zahl, wie viel Rassismus geschieht, weil viel nicht gemeldet wird. Ich würde eher sagen, dass diese vermehrten Meldungen ein Zeichen dafür sind, dass die Leute immer mehr sagen: „Nein, das passt so nicht“. Ein Trend ist allerdings, dass Hass und Hetze im Internet massiv gestiegen sind. Das ist seit 2010 um mehr als das Achtfache gestiegen.
Welche rassistischen Vorfälle sind die häufigsten?
Die meisten Vorfälle ereigneten sich 2017 im Internet und zwar in Form von Beleidigungen von Einzelpersonen oder Hetze gegen ganze Gruppen. Die zweithäufigsten Vorfälle geschahen im öffentlichen Raum und das geht von Beschimpfungen über Kopftuch vom Kopf reißen bis zu Beschmierungen.
Von den gemeldeten Fällen ist nach wie vor der Hass gegen Musliminnen und Muslime, der Hass gegen Geflüchtete besonders stark. In einem EU-Projekt wurde festgestellt, dass auch die Intensität zunimmt. Das Wiener Neujahrsbaby war da beispielhaft.
Was kann jeder einzelne im Alltag tun, um Rassismus entgegenzuwirken?
Zivilcourage! Zivilcourage ist immer ein Intervenieren zur Unterstützung der Betroffenen/Beleidigten und kann total vielfältig sein: Es kann bedeuten, zu sagen: „Ich seh das nicht so. Das passt überhaupt nicht, was da abgeht.“ Oder man kann sich vor die Person stellen oder einfach zu der Person, die angegriffen wird, um ihr symbolisch den Rücken zu stärken. Aber auch das Hergeben der eigenen Kontaktdaten, um als Zeuge auszusagen, kann schon helfen. Wichtig ist dabei natürlich, dass man sich selbst nicht in Gefahr bringt.
Es ist umso leichter, zivilcouragiert aufzutreten, wenn man sich Szenen im Kopf durchspielt: Man stellt sich vor, dass jemand beschimpft wird und sich fragt, was man tun könnte. Was traue ich mir zu? Ist das zu sagen „Ich ruf die Polizei“ oder ist es, dass ich mich zur Person stelle und frage „Soll ich mit Ihnen weggehen?“ Oder auch zur Person, die beschimpft, zu sagen: „Hören Sie bitte auf!“
Dieses „Trockentraining“ kann extrem helfen, dann handlungsfähig zu sein, wenn die Situation real wird, weil man dann nicht erst überlegen und in Schockstarre verharren muss.
Zeigen viele Menschen Zivilcourage?
Von den Meldungen, die wir bekommen, wird in den wenigeren Fällen Zivilcourage gezeigt. Und das ist etwas, was Betroffene häufig als ganz besonders belastend erleben, vor allem wenn im öffentlichen Raum niemand unterstützend da ist. Da entstehen dann oft Gedanken wie: „Sehen die das alle so?“ Zivilcourage zeigen ist also wirklich etwas ganz Essentielles.
Wie kann man Menschen dazu ermutigen?
Einerseits ist es wichtig, zu zeigen und zu sagen, dass Zivilcourage etwas ist, was wirklich jeder kann. Wenn man das eben im Trockenen durchspielt, fallt den meisten Leuten extrem viel ein. Es gibt ein großes Potenzial und Wissen über Präventionsmaßnahmen.
Menschen berichten unter #MeTwo im Internet von ihren Erfahrungen. Bringt so eine Debatte via soziale Medien etwas? Oder versandet das irgendwann einfach wieder?
Wenn es für die betroffene Person gut ist, das gesagt zu haben, dann hat es schon etwas gebracht. Ich glaube aber auch, dass es gesamtgesellschaftlich „etwas bringt“, weil damit Diskussion stattfindet, die sonst nicht stattfinden würde. Und wenn man sich Postings dazu anschaut, kommt man drauf, dass viel nicht ausgehandelt in der Gesellschaft, was als Rassismus angesehen wird. Das ist ein gesellschaftlicher Diskurs, der extrem notwendig ist, denn Deutungshoheit, was rassistisch ist und was nicht, beanspruchen viele Leute für sich.
Auf eine Frage zu #MeTwo antwortete Außenministerin Karin Kneissl in einem Interview: „Mit dummen Aussagen ist jeder von uns konfrontiert. […] Damit muss man umgehen können, sich zusammenreißen oder mit einer Portion Humor nehmen. […]“ Was sagen Sie dazu?
Ich interpretiere diese Aussage ein bisschen als Abwehr. Dass man sich mit rassistischen Aussagen nicht befassen muss, weil es „eh nicht so schlimm ist“. Das sehe ich problematisch, weil Rassismus im Gesellschaftsdiskurs erfüllt eine Funktion, eine Abwertungsfunktion, über die erklärt wird, warum gewisse Privilegien bestehen, andere wiederum nicht bestehen oder wie etwa Verteilung von Gütern stattfinden soll. Und wenn man auf dieser Ebene verharrt und nicht schaut, wo es Rassismus in der Gesellschaft gibt, dann bleibt man in sehr entscheidenden Sachfragen extrem oberflächlich.
Denken Sie, wäre so etwas, wie jetzt in Chemnitz passiert ist, auch in Wien jederzeit möglich?
Meine Einschätzung ist: Momentan nicht, aber theoretisch kann überall auf der Welt soetwas passieren, wenn die Bedingungen vorhanden sind. Aber ich sehe es in Wien derzeit nicht.
Rassismus entsteht ja auch durch Angst – Angst vor Neuem/Anderem/Unbekanntem. Wie kann man den Leuten diese Angst nehmen?
Durch Auseinandersetzung mit dem vormals Unbekanntem. Es ist nicht so, dass Unbekanntes ein Leben lang unbekannt sein muss. Rassismus ist auch ein Erklärungsmuster für Einteilungen, die man trifft. Und wenn man erkennt, dass Rassismus als Erklärungsmuster und Entscheidungsfindungsgrundlage dient, dann muss man sich die Frage stellen: Will ich auf dieser Basis Entscheidungen treffen? Wenn man das nicht will, dann muss man sich damit auseinandersetzen. Wichtig ist, dass möglichst früh diese Sensibilisierung stattfindet. Und natürlich auch eine Handlungsanpassung.
Leute sind auch oft verzweifelt, weil sie im engsten Kreis, in der Familie oder von Freunden, rassistische Äußerungen wahrnehmen. Wie reagiert man in so einer Situation am besten?
Das ist ein ganz großer Bereich des zivilcouragierten Handelns, dass man hier sagt: „Ich sehe das anders.“ Wenn man in einen Austausch kommen möchte, wo sich etwas verändern kann, dann ist es aber notwendig, mit einer Ehrlichkeit in dieses Gespräch zu gehen und interessiert zu sein, was die Person zu sagen hat und wie sie zu diesen Aussagen kommt – und gleichzeitig sehr klar sein in dem, dass man das selbst nicht so sieht. Erst dann kann sich ein Diskurs ergeben, der zu einem Umdenken führt. Nur: Nichts zu sagen, wird mit 100-prozentiger Sicherheit nicht zu einem Umdenken führen.
„Es fängt genauso an wie damals“ äußern ebenfalls viele Menschen mit Angst und es scheint, als wären rassistische Äußerungen tatsächlich salonfähriger geworden. Haben Sie Angst, die Geschichte könnte sich wiederholen?
Gruppendenken ist ein Phänomen, das bekannt ist und es ist klar, dass ein Diskurs, der unhinterfragt stattfindet, sich auch in Gesetzestexten und politischen Ausrichtungen niederschlagen kann. Insofern ist es wichtig, sorgsam und achtsam mit dem Thema umzugehen und Zivilcourage zu zeigen. Dazu zählt nämlich auch, dass man rassistische Argumente in einem Sachdiskurs nicht als überzeugendes Argument stehen lässt, sondern immer fragen muss: „Was soll das heißen? Was meinst du mit der Aussage: ‚Die Person ist aus dem Ausland, deshalb soll sie keinen Anspruch auf die Leistung haben?‘“ bzw. "Inwiefern ist das ein überzeugendes Argument in dieser Sachfrage?" Diese Fragen muss man stellen, damit klar ist, dass der Sachdiskurs wieder in den Fokus rücken soll und dadurch besteht schon die Hoffnung, dass der rassistische Diskurs geringer wird.