Das Assad-Regime ist implodiert, jetzt haben in Damaskus islamistische Terroristen das Sagen, die plötzlich zu Rebellen wurden. Man kann daraus einiges über die Wunder der Weltgeschichte lernen und auch über die Funktionsweise der Medien.
Staunend konnte man zu Beginn der jüngsten Ereignisse in Syrien mitverfolgen, wie aus islamistischen Terroristen „Rebellen“ wurden und aus ihrem berüchtigten Anführer eine Art Fidel Castro unserer Tage. Inzwischen hat sich medial so etwas wie konstruktive Skepsis breitgemacht, und das ist ein wirklicher Fortschritt.
Die Implosion von Gewaltherrschaften gehört zu den aufregendsten Phänomenen der Weltgeschichte. Ich gehöre zu der Generation, die noch hinter den Eisernen Vorhang gereist ist und für die der weitgehend gewaltfreie Zerfall der Sowjetunion für immer das unerreichte Wunder der Weltpolitik sein wird. Die in der Wiedervereinigung im Oktober 1990 gipfelnde Wende in Deutschland, die Verselbstständigung des Baltikums und schließlich die Auflösung des Vertrags über die Schaffung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) und deren Ersetzung durch die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS): Das annus mirabilis, das Wunderjahr der Weltgeschichte, als das man das Jahr 1989 wegen des Aufgehens des Eisernen Vorhangs bezeichnete, dauerte eigentlich zwei Jahre, bis Ende 1991.
Viele Wunderjahre der Weltgeschichte melden sich später wunderlich zurück. Die Französische Revolution von 1789 endete im napoleonischen Absolutismus, die bürgerliche Revolution von 1848 führte in den deutschen Staaten ziemlich direkt ins reaktionäre Zeitalter. Den aktuellen Siegeszug des sogenannten Rechtspopulismus wird man ohne den durchschlagenden Erfolg der linken 68er-Bewegung nicht erklären können, und der Ukraine-Krieg, der bald sein drittes Jahr voll machen wird, stellt unerbittlich einige der unbeantworteten Fragen des Wunderjahres 1991 noch einmal.
Tragödie & Farce
Karl Marx hat dieses Muster in seiner Analyse der Machtergreifung Louis-Napoléon Bonapartes im Zuge der französischen Februarrevolution von 1848 mit einer berühmt gewordenen Formulierung so beschrieben: „Hegel bemerkt irgendwo, dass alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen hinzuzufügen: das eine Mal als große Tragödie, das andre Mal als lumpige Farce.“
Ob man es mit einer lumpigen Farce als Wiedergängerin des „arabischen Frühlings“ von 2011 zu tun hat, fragt man sich gerade auch mit Blick auf Syrien. Zunächst erscheint es fast als Wunder, dass die Gewaltherrschaft der Assad-Familie nach mehr als einem halben Jahrhundert so gut wie geräuschlos endete. Innerhalb von zwei Wochen marschierten die Truppen der Hayat Tahrir al-Sham (HTS) von Idlib im Nordwesten aus über Aleppo und Homs nach Damaskus, ohne auf nennenswerte Gegenwehr durch die Assad-Armee zu stoßen. Was war da passiert? Und wie kam es, dass die HTS, die sowohl von den USA als auch von der EU und den Vereinten Nationen aus guten Gründen als Terrororganisation eingestuft wurde – sie war der Ableger der al-Quaida in Syrien –, plötzlich als „Rebellen“-Gruppe bezeichnet wird und ihr Anführer Muhammad al-Jolani als besonnener Anführer des demokratischen Aufstands gegen einen grausamen Diktator vorgestellt wird?
Gewiss, Menschen können sich ändern, und es kann aus einem islamistischen Terroristen auch ein Fidel Castro unserer Tage werden – so nämlich präsentiert sich al-Jolani, der nun wieder unter seinem bürgerlichen Namen Ahmed al-Sharaa auftritt, inzwischen. Zuletzt vor ein paar Tagen in einem Interview mit CNN, das er gewissermaßen auf dem Weg von Idlib nach Damaskus gab, kurz nach der Einnahme von Hama: Von der olivgrünen Uniform bis zur Barttracht und zur Kappe: Ungefähr so trat Fidel Castro auf, als er 1959, sechs Jahre nach Beginn der Revolution, in Havanna einzog, um das Unrechtsregime des Diktators Batista zu beenden – und sein eigenes zu beginnen. Wer kommt wann und warum auf die Idee, ein weltgeschichtliches Ereignis zum Wunder zu machen und gewissermaßen in seinen eigenen Erklärungsrahmen zu stellen – framing nennt man das in politikwissenschaftlichen Fachkreisen –, und vor allem: Warum funktioniert das, und wie lange kann es gutgehen?
Dass es zumindest kurzfristig funktioniert, ist eines der zentralen gesellschaftlichen Probleme unserer Zeit. Derjenige, dem es gelingt, ein Ereignis zuerst in den für ihn passsenden Rahmen zu stellen, hat gewonnen. Das war während der Corona-Zeit so, das galt und gilt für den Ukraine-Krieg, genauso ist es in allen Fragen, die den Klimawandel betreffen. Besonders gut funktioniert das, wenn skrupellose Strategen und naive Wohlmeinende gemeinsame Sache machen. Entscheidend ist dabei, dass es gelingt, bereits den leisesten Zweifel an der dominierenden Erzählung als klar erkennbares Zeichen einer extremen Gesinnung zu brandmarken.
Unter dieser Perspektive könnte der Fall des Assad-Regimes und die Machtübernahme durch die Islamisten ein erstes Beispiel für einen neuen Zugang sein: Spät, aber doch, hat sich in den meisten westlichen Medien eine differenzierte Erzählung der Ereignisse durchgesetzt. Möglicherweise erinnert man sich in der einen oder anderen Redaktion noch daran, dass man während des „arabischen Frühlings“ 2011, in dem auch der syrische Bürgerkrieg begonnen hat, mit der einhellig verbreiteten Illu-sion, dass sich die arabische Jugend von Nordwestafrika bis Damaskus in einer demokratischen Aufwallung gegen die Autokraten der Region stellt, katastrophal Schiffbruch erlitten hat. Ob die Medienwelt dauerhaft zurückfindet in die Zeiten vor der Herrschaft des Wunschdenkens, ist genauso ungewiss wie die Zukunft Syriens.
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Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 50/2024 erschienen.