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2nd OPINION: Wann ist man zu alt oder zu böse für ein Amt?

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7 min
Joe Biden bei einer Rede am 1. August 2024.

©IMAGO / Cover-Images
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Wann ist man zu alt oder zu böse für ein Amt, und wer hat eigentlich darüber zu befinden? Wer Politikern, deren Ansichten er ablehnt, die prinzipielle Eignung für die Ämter, um die sie sich bewerben, abspricht, demonstriert vor allem eines: dass er selber für die Aufrechterhaltung der Demokratie nicht geeignet ist.

Von der Hamburger Wochenschrift „Die Zeit“, die mich seit fast vier Jahrzehnten begleitet und deren Entwicklung vom politischen Schlachtschiff zur Lifestyle-Schneeflocke ich aus nächster Konsumentennähe mit verfolgen durfte, bekam ich dieser Tage eine Mail, die hatte folgenden Betreff: „Joe Biden tritt als Kandidat zurück. Befürworten Sie diese Entscheidung, Herr Fleischhacker?“

Man bekommt als jemand, dessen Mailadresse nicht der Geheimhaltung unterliegt, gar nicht so wenige Mails, deren Betreffzeilen und Inhalte einen, was die Menschen und ihre Zukunft als Gattung betrifft, nicht sonderlich optimistisch stimmen. Und ich habe wie die Kolleginnen von der „Zeit“ auch irgendwo gelesen, dass Fragen in Betreffzeilen gut sind, weil sie ein Interaktionsangebot darstellen und damit die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass ein Newsletter zumindest geöffnet und angelesen wird.

Das hat seine Grenzen, und es ist, typisch Grenzen, nicht leicht, diese Grenzen festzulegen. Wann ist etwas so dämlich, dass es schon wieder interessant ist, und wann ist es so daneben, dass man es brüsk ignoriert? Kommt darauf an. Immerhin hat die Betreffzeile des aktuellen „Zeit“-Newsletters das Zeug, das Problem des deutschsprachigen Journalismus mit Blick auf die Vereinigten Staaten auf den Punkt beziehungsweise auf den Betreff zu bringen: Es geht nicht darum, herauszufinden und gegebenenfalls auch zu berichten, was in den Vereinigten Staaten passiert, sondern darum, herauszufinden, ob die eigene Klientel das, was in den Vereinigten Staaten passiert, befürwortet oder nicht. Obwohl – oder weil – es vollkommen irrelevant ist, ob Herr Fleischhacker oder auch „Die Zeit“ den Rücktritt Joe Bidens von der Wiederkandidatur befürworten oder nicht?

Irgendwann haben die medialen Vertreter des mildlinken Moralismuskartells begonnen, diese Art der Behandlung von Wirklichkeit auf die eigenen Verhältnisse rückzuübertragen. Es geht dabei im Grunde nur darum, ergebnisoffene Fragen durch moralische Festlegungen zu ersetzen. Statt zu fragen, welche Interessen es sind, die eine Kandidatin oder ein Kandidat mit seiner oder ihrer Position bei einem bestimmten Teil der Wählerschaft bedient, fragt man sich, wie es sein kann, dass ein so großer Teil der Wählerschaft so dumm oder moralisch defizitär sein kann, sich einer Kandidatin oder einem Kandidaten, die oder den man ablehnt, an den Hals zu werfen.

Der Preis für die Verteidigung der eigenen moralischen Überzeugungen gegen die Anfechtungen der Wirklichkeit ist die Verkehrung von fast allem, was sich auf der politischen Bühne abspielt, in sein Gegenteil. Bestes Beispiel dafür ist die Frage nach der Eignung von Kandidatinnen und Kandidaten für politische Ämter. Als sich Joe Biden jetzt vom Rennen um die US-Präsidentschaft zurückzog, ging es darum, ob der amtierende Präsident gesundheitlich in der Lage sein würde, eine weitere Periode im Amt zu überstehen. Als er jetzt aufgab, erklärten etliche Beobachter, vor allem in Europa, dass ja eigentlich auch Donald Trump für das Amt des Präsidenten nicht geeignet sei, bloß aus anderen Gründen.

Man könnte mit seiner Einschätzung kaum weiter danebenliegen. Selbst verständlich ist Donald Trump geeignet für jedes politische Amt, und noch geeigneter ist er für den Wahlkampf um jedes politische Amt, weil er über die Eigenschaften, die im Wettbewerb um politische Ämter entscheidend sind, im Übermaß verfügt: Instinkt, Schlagfertigkeit, ein gewisses Maß an Skrupellosigkeit, Konsequenz, unbedingten Siegeswillen. Genau das, was auch viele rechts- und linkspopulistische Politiker in den europäischen Staaten von Geert Wilders bis Jean-Luc Mélenchon, von Sahra Wagenknecht bis Herbert Kickl auszeichnet. Die Genannten sind so sehr geeignet, dass ihre Gegner in Politik und Politikberichterstattung keine bessere Idee mehr zu haben scheinen, als zu behaupten, sie seien es nicht.

Der Preis für die Aufrechterhaltung der eigenen moralischen Überzeugungen ist oft die Verkehrung der Realität in ihr Gegenteil

Wenn man den Gedanken der Eignung oder Nichteignung für politische Ämter schon ernsthaft erwägen möchte, stellt sich sehr schnell die entscheidende Frage: Wer hat darüber zu befinden? In einer Demokratie wohl die Wählerin und der Wähler (neben dem Strafrecht, dessen Bemühung zur Verhinderung einer Kandidatur aber erhebliche politische Risiken birgt). Das ist für viele Medienvertreter, die sich in ihrem Selbstbewusstsein als vierte Gewalt gern in der Rolle des moralischen Höchstgerichts sehen, schwer zu akzeptieren, und das ist der Grund, warum wir so oft lesen, dass dem einen Politiker oder der anderen Bewerberin die Eignung für das angestrebte Amt fehle.

Es gibt viele gute Gründe dafür, eine zweite Präsidentschaft von Donald Trump oder eine deutsche Regierung unter Führung der AfD für problematisch zu halten oder einfach nicht zu wollen, und ich teile viele dieser guten Gründe. Ein demokratischer Diskurs, der diesen Namen verdient, muss allerdings auch die Position für legitim halten, dass es gute Gründe gibt, eine zweite Präsidentschaft Donald Trumps und eine AfD-geführte deutsche Regierung zu befürworten. Wenn wir beginnen, unerwünschte Ergebnisse des demokratischen Entscheidungsprozesses für illegitim zu erklären und Politikerinnen und Politikern, die wir nicht unterstützen, die prinzipielle Eignung für die Ämter abzusprechen, um die sie sich bewerben, dann sagt das nur eines: dass wir selbst für die Aufrechterhaltung der Demokratie nicht geeignet sind.

Was meinen Sie? Schreiben Sie mir: redaktion@news.at

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 30+31/2024 erschienen.

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