Österreich wird regelmäßig vom Erwartbaren überrascht. Dann versucht man, der komplexen Realität durch klare Fehlentscheidungen zu entkommen. Am Ende führt das ungefähr dorthin, wo man ganz bestimmt nicht enden wollte. Da kann man halt nix machen: Pragmatismus ist etwas für Sterbliche, der Denkergott zeigt Haltung
Einmal mehr wurde Österreich vom Erwartbaren überrascht: Die FPÖ wurde bei der Nationalratswahl stärkste Partei, obwohl sich das seit eineinhalb Jahren abgezeichnet hat. Auch der Bundespräsident wirkte am Sonntagabend sehr bedrückt, man rechnete fast ein bisschen damit, dass er seine Ansprache mit einer Kondolenzadresse an die Hinterbliebenen beginnen würde. Weil in diesem Land mit dem Erwartbaren niemals zu rechnen ist, brach also noch am Wahlabend eine hektische Debatte darüber aus, wie man in dieser naturkatastrophenhaft unvorhersehbaren Situation zu agieren hätte. Muss der Wahlsieger zurücktreten? Können die beiden Wahlverlierer allein eine Regierung bilden oder brauchen sie, um ihre Machtbasis breiter zu gestalten, auch den kleineren Wahlsieger? Ist die Bundeskanzlerpartei der eigentliche Wahlsieger, weil die Erde, auf der die FPÖ auf Platz eins rutschte, zwar vom Feldherrenhügel der ÖVP abging, die Parteizentrale aber noch immer steht? Warum spricht man bei der SPÖ, die nur nicht vom Fleck kam, von einem Absturz, während man der ÖVP, die zweistellig verloren hat, einen Achtungserfolg attestiert? So ist das bei Naturkatastrophen: Am Anfang kennt sich erst mal keiner aus, und dann weiß niemand, wie es weitergeht.
Die Faschisten
Man kann es natürlich auch weniger kompliziert sehen. Eines der intellektuellen Aushängeschilder des österreichischen Journalismus, der Pianist und Dichter Armin Thurnher, vermied den drohenden Differenzierungsexzess, zu dem es kommen könnte, wenn man das Problem, das wir seit Montag haben, ernsthaft bedenkt: Dass man nämlich entweder ein Drittel der Wähler vor den Kopf stößt, weil man ihre Stimmen für irrelevant erklärt, den Wahlsieger von der Regierung fernhält und stattdessen eine Regierung der Verlierer bildet; oder ein vertretbares Regierungsprogramm mit einer Partei zustande bringen muss, die sowohl, was die Programmatik, als auch das Personal und den Habitus des Vorsitzenden betrifft, ziemlich problematische Aspekte mit sich bringt. Keine triviale Ausgangslage. Armin Thurnher aber möchte Klarheit: „Das Historische an diesem Tag“, schreibt er, „ist der Sieg der Faschisten“, und das war’s dann auch. Sonst ist über nichts zu reden, es graut ihm „vor all den hilflosen Phrasen, vor dem geschäftigen Gebrabbel, vor den wirren Spekulationen, vor der unpolitischen Vernebelung von allem, vor dem Abschied von jeder ethischen Unterscheidungsfähigkeit. Wie ich schon sagte, Herr, vergib ihnen, denn sie wissen, was sie wählen.“
Ich weiß nicht, wie es ist, der einzige aufgeklärte, nicht brabbelnde, unter keinen Umständen spekulierende, von schmerzlicher und schmerzhafter Klarsicht durchwaberte Seher in einem Land von politisch Blinden zu sein, ein ethisches Monument im braunen Erdrutsch, der letzte seiner Art. Aber ich stelle es mit nicht leicht vor. Auch das gehört ja zur österreichischen Kultur der Über-raschung durch das Erwartbare: Einem Drittel der Bürger zu erklären, dass sie entweder Faschisten oder im günstigsten Fall zu dumm sind, um das zu begreifen, und dann darüber entsetzt sein, dass die, die man für Faschisten hält, eine Partei wählen, die man Faschisten nennt. Das Hauptmotiv der FPÖ-Wähler, sagte einer der besseren Wahlforscher im Land, sei nicht die Migration gewesen, sondern das Gefühl, von den Eliten verachtet zu werden. Wo das wieder herkommt?
Der Trostpreis
Ein Nebenprodukt der klaren Haltung ist übrigens die Einzementierung des großen Wahlverlierers ÖVP im Bundeskanzleramt, aber das ficht den Denker nicht an, denn es geht ja nicht darum, ein konkretes Problem in einer konkreten Situation in einem konkreten Land zu lösen, sondern ausschließlich darum, recht zu haben, auch wenn das der Trostpreis ist im Leben. Pragmatismus ist etwas für Sterbliche. Unterhalb des Denkerhimmels, auf der ebenen Erde des politischen Alltags, stellt sich das Problem ungefähr so dar: Der Wahlsieger geht in Opposition, und der größte Wahlverlierer führt die Regierung.
Das wäre eh auch ziemlich österreichisch, weil es hierzulande ja noch nie ein Problem gewesen ist, die Wahl zu verlieren, solange man die Koalitionsverhandlungen gewinnt, aber es würde vermutlich dazu führen, dass der ausgebootete Wahlsieger ziemlich entspannt auf die nächste Wahl warten könnte. Bei der würde es dann wohl, damit es sich noch ausgeht, eine Koalition aus allen anderen Parteien geben (manche wünschen sich das jetzt schon), vermutlich angeführt von Karl Nehammer, dessen ÖVP dann zwar nur noch 20,3 Prozent der abgegebenen Stimmen haben wird, was aber nichts daran ändert, dass der Bundeskanzler angesichts der Umfragen, die schon einmal bei 15 % gegrundelt haben werden, einen weiteren Achtungserfolg verbuchen und damit das Anrecht auf seinen Verbleib als Regierungschef erwerben wird. Die 40 Prozent, die dann die Faschisten gewählt haben werden, stellt man im Zweifelsfall mit einem Falschwählerbonus ruhig, dann ist auch nicht mehr ausgeschlossen, dass sich das 2034 ein weiteres Mal ausgeht. 2039 hätte man dann selbst in einem nach schwedischem Vorbild reformierten Pensionssystem Anspruch auf die wohlverdiente Rente, und viel weiter als 15 Jahre kann man in dieser schnelllebigen Zeit ohnehin nicht vorausplanen. Um es mit dem großen Denker zu sagen: Nur noch ein Waldviertler Gott kann uns retten.
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Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 40/2024 erschienen.