Derzeit ist viel davon die Rede, was ein Kanzler Kickl in Österreich und in der Welt alles anrichten könnte. Diese Angstlust ist auch und vor allem ein Ausdruck der Sorge vor dem Verlust der Deutungshoheit im Kultur- und Medienbetrieb
Dass in einer Gesellschaft die Angstlust Hochkonjunktur hat, erkennt man daran, dass in den Zeitungen sehr viele Artikel erscheinen, die das Wort „könnte“ im Titel haben. Man möchte sich gern fürchten, und wenn das bisher Geschehene dafür keine hinreichende Grundlage bietet, muss man journalistisch in den furchterregenden Möglichkeitsraum vordringen.
Die Zeitung, für die ich einmal verantwortlich war, wollte meine Grusellust dieser Tage durch einen Artikel darüber anheizen, was Herr Kickl in Brüssel alles „anrichten“ könnte, und sogar mein Lieblingsmedium, The Economist, warnte mich und den Rest der Welt nach der Vergabe des Regierungsbildungsauftrags an den Kärntner Rechtshegelianer vor der „Putinisierung“ nicht nur Österreichs, sondern ganz Europas. Gern möchte man fragen: „Geht’s noch?“ Aber man fragt nicht, denn man kennt die Antwort: „Na sicher, da geht noch mehr.“
Das Angstlustgeschäft gehört zu den ältesten Gewerben der Welt, der Mensch hat sich immer schon gern gefürchtet, egal, wie es um ihn und die Welt stand. Ging es ihm schlecht, fürchtete er sich zurecht, ging es ihm gut, ging ihm offenbar etwas ab.
25-Jahr-Jubiläum
Wenn man über das Phänomen der politischen Angstlust nachdenkt, darf man nicht vergessen, dass wir in wenigen Wochen, nämlich am 4. Februar, das 25-Jahr-Jubiläum von Schwarz-Blau Nr.1 feiern, das ja in Wahrheit auch bereits ein Blau-Schwarz war (die FPÖ hatte bei der Wahl im Oktober 1999 um 415 Stimmen mehr als die ÖVP bekommen, dem drittplatzierten ÖVP-Chef allerdings den Kanzlersessel überlassen). Damals steigerte sich die österreichische Angstlust zur europäischen Hysterie und materialisierte sich in Sanktionen, die man „Maßnahmen“ nennen musste (Orwell-Sprech war schon immer en vogue).
Vermutlich verdankte die Regierung Schüssel 1 dem europäischen Sanktionentheater ihr Überleben, sie überlebte dann sogar eine vorgezogene Neuwahl 2002 und die Abspaltung des BZÖ im Frühjahr 2005, und wäre die ÖVP im Jahr 2006 nicht mit der Verwaltung ihrer Großartigkeit vollbeschäftigt gewesen, statt einen Wahlkampf zu führen, hätte man wohl auch noch länger regieren können. Aber das ist eine andere Geschichte. Was man aus dieser hier lernen könnte, ist, dass Angstlust zwar lustig, aber wenig zielführend ist.
Das soll keineswegs bedeuten, dass man sich wegen einer Regierungsbeteiligung der FPÖ nicht legitimerweise Sorgen machen kann. Nicht nur wenn man von der aggressiven Rhetorik der Partei direkt betroffen wäre, sondern auch als jemand, der es gern insgesamt zivilisiert, niveauvoll und menschenfreundlich hat. Wenn mir ein präsumptiver Bundeskanzler ein „Zurück zur Normalität in allen Lebensbereichen“ als sein Regierungsprogramm verkauft, wie das Herbert Kickl bei der Präsentation der FPÖ-ÖVP-Budgetkonsolidierungsüberschriften getan hat, wird mir eher schummrig zumute. Ich will nämlich niemanden, der mir vorschreibt, was ich für normal zu halten habe, und das betrifft kalifornische Linkshegelianer genauso wie Kärntner Rechtshegelianer.
Will heißen: So sehr ich es für falsch halte, dass Identitätspolitik während der vergangenen eineinhalb Jahrzehnte Eingang in fast alle Bereiche der Gesetzgebung gefunden habe, so unangemessen halte ich den Plan von Rechtspopulisten aller Schattierungen, stattdessen mit gesetzlichen Regulierungen die fantasierte Gesellschaftsordnung der 50er- und 60er-Jahre wiederherzustellen. Wie wäre es, wenn die Regierenden uns in allen unseren Lebensbereichen einfach mal in Ruhe ließen? Genausowenig wie ich zu Gendersternchen gezwungen werden möchte, will ich, dass sie irgendjemandem verboten werden, so sehr mir die Identitätspolitik auf die Nerven geht, so wenig möchte ich, dass irgendwelche rechten Klemmis ihre sexuellen Tiefenängste im Bereich der Gesetzgebung ausleben.
Im Großen und Ganzen kann man das österreichische Wahlergebnis und die etwas verspätet darauf folgende Regierungsbildung als Teil eines globalen Phänomens einordnen: Nach dem gesellschaftlichen Siegeszug einer „progressiven“ Ideologie, die sich in ihrer spätmarxistischen Schwundstufe auf Identitätspolitik, Postkolonialismus und Klimapolitik verengt hat, scheint es nun einen Pendelschlag zurück in die konservative Richtung zu gehen. Dass die jetzt sich verbreitende Angstlust ganz wesentlich ein mediales Phänomen ist, muss einen nicht wundern: In den verantwortlichen Positionen des kulturell-medialen Establishments sitzen lauter Leute, die um den Fortbestand ihrer Deutungshoheit bangen.
Aber: keine Angst. So, wie der linke Pendelschlag nicht nur sozialdemokratisch, sondern zum Teil auch militant sozialistisch ausgefallen ist, beobachten wir eben auch in der Gegenrichtung militant reaktionäre Strömungen. Und so, wie sich die westlichen Gesellschaften gegenüber den extremen und sogar terroristischen Auswüchsen des Progressiven als robust erwiesen haben, werden sie sich auch gegenüber den extremen und gegebenenfalls gewaltbereiten Auswüchsen des Reaktionären als robust erweisen. Der Rest ist Feuilleton.
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Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 3/2025 erschienen.