Wird die Hochwasserkatastrophe die Nationalratswahl am 29. September 2024 beeinflussen? Ich würde sagen: eher nein. Vor allem, weil die Strategie der Kickl-Gegner extrem sportlich ist: Sie wollen das Verhalten von Menschen, die sie für Idioten halten, verändern, indem sie ihnen beweisen, dass sie Idioten sind.
Wahlen und Naturkatastrophen haben eine lange gemeinsame Geschichte, weil man gemeinhin davon ausgeht, dass sich der wahre Charakter eines Menschen, zumal eines Politikers, im Krieg und in der Krise erweise. Das ist überall auf der Welt so. Was den Krieg betrifft, ist der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij, der einige Monate vor Beginn des russischen Überfalls eigentlich rücktrittsreif gewesen ist, das aktuellste Beispiel. Im Bereich der Naturkatastrophen haben wir es in jüngerer Vergangenheit auch in Österreich und Deutschland gesehen: Gerhard Schröder hat 2002 die Wahlen trotz schlechter Aussichten durch eine gute Performance während der großen Flut doch noch gewonnen, in Österreich hingegen zerbrach im selben Jahr bei derselben Flut die erste schwarz-blaue Koalition. Armin Laschet hat die Bundestagswahl 2021 verloren, weil er bei einem Pressetermin anlässlich der Ahrtal-Flut öffentlich gelacht hat, wo er hätte betroffen schauen sollen. Viktor Klimas Hochwasser-Auftritt in Gummistiefeln 1997 bei einem vergleichsweise harmlosen Anlass geriet ein bisschen zur Lachnummer, und ganz sicher kann man sich als Politiker wohl nie sein, ob man ein Krisengebiet als Anpacker verlässt oder als Witzfigur.
Hochwasser & Hochtwitter
Das hat natürlich auch mit der Entwicklung der sozialen Medien zu tun. Dass Viktor Klima seinen Gummistiefelauftritt politisch überlebt hat, zumindest bis 1999, liegt nicht zuletzt daran, dass das Ereignis vor ihrer Machtergreifung stattfand. Die sozialen Medien sind so etwas wie eine kommunikative Naturkatastrophe, man kann einiges vorhersagen, aber nicht alles, ein Teil des Raubbaus am natürlichen Habitat der Kommunikation ist nicht mehr rückgängig zu machen, und ein Restrisiko bleibt immer. Es sind schon viele mitgerissen worden, die geglaubt haben, sie hätten sich in einer unbedenklichen Zone angesiedelt. Die Kombination aus Hochwasser und Hochtwitter ist jedenfalls wirklich schwer auszurechnen.
Was die niederösterreichische Hochwasserkatastrophe tatsächlich für die Nationalratswahl am 29. September bedeuten wird, weiß ich nicht. Was ich sehe, ist in erster Linie der Versuch vieler Menschen, die seit Monaten daran arbeiten, den seit eineinhalb Jahren prognostizierten Durchmarsch der FPÖ unter Herbert Kickl zur stärksten Partei zu verhindern, den FPÖ-Chef mit dem Klima zu „erwischen“.
Die Rechnung geht ungefähr so: Jetzt, da doch jeder sehen könne, wozu der menschengemachte Klimawandel führe, nämlich Naturkatastrophen am laufenden Band, müsste doch auch dem letzten Deppen – und das sind die FPÖ-Wähler in den Augen dieser Kritiker, wären sie keine Deppen, würden sie nämlich nicht die FPÖ wählen – klar sein, dass man mit der Klimaleugnerpartei FPÖ auf den sicheren Untergang Niederösterreichs und des Rests der Welt zusteuere. Ich weiß nicht, ob diese Strategie aufgehen wird, denn sie ist extrem komplex: Menschen, die man für Idioten hält, durch den Hinweis darauf, dass sich jetzt unabweisbar gezeigt habe, welche Idioten sie sind, von einer Wahl abzuhalten, die sie erneut als Idioten ausweisen würde, könnte möglicherweise ein zu sportlicher Ansatz sein.
Diejenigen, die entgegen dem aktuellen Stand der Attributionsforschung (das ist jener Zweig der Klimaforschung, der versucht, herauszufinden, ob und wie man konkrete Ereignisse einwandfrei dem Klimawandel attribuieren, also zurechnen kann) fest glauben, dass alles, was jetzt in Niederösterreich passiert ist, eine unmittelbare Folge des Klimawandels sei und durch mehr österreichischen Klimaschutz abwendbar gewesen wäre, hatten diese Überzeugung auch vor der Hochwasserkatastrophe schon. Und diejenigen, die das nicht glauben, wird man vermutlich dadurch, dass man ihnen den vermeintlichen oder tatsächlichen Preis für ihr Idiotentum um die Ohren hauen kann, eher nicht von der falschen Stimmabgabe abhalten können. Ich weiß also ehrlich gesagt nicht, warum das Hochwasser irgendetwas an den prognostizierten Wahlergebnissen ändern sollte.
Durchaus Potenzial
Was die Art der öffentlichen Debatte betrifft, die das Hochwasser mit Blick auf die Wahl begleitet, so denke ich, dass sie durchaus Potenzial hat. Allerdings nicht für die Etablierung einer differenzierten und wertschätzenden Debatte über die angemessene Art der Klimapolitik für einen mitteleuropäischen Staat, dem es gelungen ist, sein Wachstum weitgehend vom CO2-Ausstoß zu entkoppeln. Sondern eher für die Aktualisierung der harten Polarisierung, die wir während der Pandemiejahre gesehen haben. Wie in der Pandemie jeder, der unter Hinweis auf die Kollateralschäden der Maßnahmen für eine zurückhaltendere Maßnahmenpolitik plädiert hat, zum „Corona-Leugner“ erklärt und rechtsextremer Umtriebe verdächtigt wurde, wird dieser Tage zum „Klimaleugner“ gestempelt, wer die Abkürzung von der Hochwasserkatastrophe zur Klimakatastrophe nicht mitgehen will und darauf hinweist, dass solche Ereignisse auch dann, wenn sie zu 100 Prozent unmittelbare Folgen des Klimawandels wären, jedenfalls nicht durch österreichische Klimapolitik verhindert werden können.
Es ist zu befürchten, dass die Naturkatastrophe erneut zur Gesellschaftskatastrophe wird.
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Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 38/2024 erschienen.